Szene aus Robert Borgmanns „Kirschgarten“-Inszenierung am Schauspiel Stuttgart. Foto: JU Ostkreuz Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Stuttgart - Ja, wenn ihr doch irgendjemand nur diesen schweren Stein von der Brust nehmen könnte. Wenn sie doch endlich ihre Vergangenheit vergessen könnte. Die Hausherrin leidet, wie alle hier, an einer merkwürdigen Zeitkrankheit. An einer Vergangenheit, die nicht vergehen kann - weil sie nicht vergehen darf, obwohl die neue Zeit doch schon längst über sie hinweggefegt ist. Die Prognose für die lethargischen Altaristokraten ist, wie immer beim russischen Arzt und Autor Tschechow, äußerst ungünstig. „Das Leben in diesem Haus ist nun zu Ende“, lässt er in seinem letzten Bühnenwerk den neuen Besitzer des Kirschgarten-Grundstücks lakonisch konstatieren. Doch jenes neue Leben, das seine alten Besitzer so wortreich beschwören, bekommen sie nicht zu fassen. So wenig, wie sie jemals in einem neuen Garten einen noch prächtigeren Kirschbaum pflanzen werden, was sie sich mit leuchtenden Augen vorgaukeln. Ihr Schicksal ist vielmehr eine obsessive Kultivierung des lähmenden Stillstands eines Leben im ewigen Gestern. Dieses bleierne Hochamt gesteigerter Antriebslosigkeit verstehen die Waisen des Lebens auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses, wo jetzt Tschechows „Kirschgarten“ in einer Inszenierung von Robert Borgmann Premiere hatte, dafür umso energischer und stilvoller zu zelebrieren.

Mit Pomp und Pathos

Das ist tragisch, das ist komisch, witzig, aberwitzig und anrührend, wie bei Borgmann die Protagonisten dieses grandiosen Lebensselbstbetrugs das schale Glück des Unglücklichseins in aller Unseelenruhe mit Pomp und Pathos auskosten. Thea Hoffmann-Axthelm zieht bei ihrer Kostümorgie für die vergangenheitsfiebrige Sozietät alle illusionistischen Register. Die Modernitätsverweigerungs-Derniere wird zur kitschig opulenten Kostümoperette, vor allem die Chefin des Hauses wirft sich beim Ball der Kapitalismusverlierer vierjahreszeitenmäßig in Schale - samtig grün, blütenweiß, kirschmundrot, trauerschwarz. Der Regisseur räumt dieser rauschenden Travestie tief dekolletierten Selbstmitleids und stilvoll eingekleideter Beziehungstristesse auf seiner leergefegten Schrägbühne zwischen den sich fluchtartig nach hinten verjüngenden weißen Wänden, die auch als Schattenkino-Projektionsfläche dienen, großzügig Zeit ein. So kann dieses Endspiel um Versäumtes und Erträumtes bei aller Agonie immer wieder poetischen Atem schöpfen für all die wunderbaren Tschechow-Momente, die seine in virtuosen Endlosschleifen ins Leere verlaufenden Konversationen bereithalten. Geschlagene dreieinhalb Stunden lang dauert dieses hochnotkomische Exerzitium kollektiven Einsamkeitswehs, das dank eines hoch präsenten, die melancholische Schwermut schwebend leicht ins Hier und Heute spielenden Ensembles doch keine Minute lange- weilt.

Im Stuttgarter Schauspielhaus ist das Spiel aus, noch ehe es nach Tschechows Dramaturgie beginnt. Denn in der ersten Szene befinden wir uns in Borgmanns Inszenierung bereits im letzten Bild von Tschechows 1904 uraufgeführtem Vier-Stationen-Kreuzweg in die Realitätsverweigerung. Der Champagner-Party folgt ein langer Kehraus. Die barfüßigen Akteure liegen zuerst regungslos verstreut am Boden, allmählich finden sich die Verkaterten paarweise auf der abschüssigen Bahn, über die von Philipp Weber ein flauschig-sphärischer Klangteppich gelegt wird. Von hinten betritt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja mit ihren Schuhen in der Hand den Raum, huscht mit ätherischer Leichtigkeit wie ein scheues Reh an der Kuschelgruppe vorbei und durchmisst mit großen Kinderkulleraugen diesen rot ausgeleuchteten Garten der gedämpften Lüste. Eine rosige Zukunft, wie es die Illumination dieser Séance vorspiegelt, hat hier keiner vor sich, noch nicht einmal der neue Kirschgarten-Besitzer, der clevere Kaufmann Lopachin, den zart fühlendes Verlangen nach einem dunklen Kindheitserlebnis mit der Gutsbesitzerin verbindet. In einer Rückblende lässt Borgmann ihn an der Seite eines jungen Alter egos (Luca Harr) das Trauma familiärer Gewalt noch einmal durchleben. Trost fand der junge Lopachin einst bei der Gutsherrin, die selbst erbarmungslos vom Schicksal geschlagen worden war: Ihr eigener Sohn ertrank mit sieben Jahren im nahegelegenen Fluss, und auch die Überlebenden zieht es bei Borgmann gegen Ende hin in die angedeuteten Bühnenfurtfluten. Astrid Meyerfeldt durchmisst als tragische Immobilienbesitzerin, die ihren wertlosen Obstgrund partout nicht gentrifizieren, also für Ferienwohnungen parzellieren lassen will und am Ende alles verliert, mit traumwandlerischem Gespür die seelischen und psychopathologischen Untiefen der Schlüsselfigur dieser schaurig schön bebilderten Familienaufstellung, bei der sich im Finale Kirschblütenblätter wie mouches volantes aufs trügerisch traute Familienidyll legen - so üppig, dass unter der fantastischen Flockendecke die Realität vollends zu verschwimmen scheint.

Nicht nur bei Meyerfeldts Gutsbesitzerin, einer tief verletzten Narzisstin, die so elegant wie gefühlskalt den Schmerz ihrer Partner- und Elternverluste zu überspielen versteht. Auch dem investitionsfreudigen Bauernsohn und Krisengewinnler Lopachin (prächtig: Manuel Harder), weiß Gott einem geerdeten Mann, der auch als erfolgreicher Geschäftsmann mit beiden Beinen auf der Scholle seiner agrarischen Ahnen steht, zieht es am Ende beim surrealen Freudentaumel den Boden unter den stylischen Stiefeln weg. Die übrigen Teilnehmer dieses grotesk überdrehten Totentanzes sind ebenfalls trefflich gezeichnet: Peter René Lüdicke als Sinnverächter und simsender Müßiggänger Gajew, Anna Gesa-Raija Lappe als verwöhntes Blondchen Anja, deren Reizen sich Manolo Bertlings verklemmter Schöngeist Trofimow virtuos entzieht, Julischka Eichel als disziplinierte, aber erotisch frustrierte Stiefschwester Warja, Gina Henkel als Borderline-Gouvernantenakrobatin Charlotta. Birgit Unterweger gibt famos das hysterische Domina-Dienstmädchen Dunjascha, Robert Kuchenbuch den windigen Gutsbesitzer Pischtschik. Wolfgang Michalek geistert als zum Schießen komische Kontoristenkarikatur durchs Schauspielhaus, Christian Czeremnych gefällt sich trefflich als selbstverliebter Paris-Flaneur Jascha, und Elmar Roloff setzt diesem großartigen Panoptikum als sympathisch seniler Tatterlakai Firs die Alterskrone auf.

Die nächsten Vorstellungen: 17., 22. und 30. April, 11., 14., 26. Mai sowie 2., 7., 26. Juni.