Stuttgart - Das nennt man Genie der Anverwandlung: Johannes Brahms, eigentlich kühles Nordlicht aus Hamburg, hat mit seinen Liebeslieder-Walzern zuvorderst seiner Wahlheimat Wien eine Liebeserklärung gemacht. Der Clou daran ist gerade nicht die plumpe Imitation des pumpenden Dreivierteltakts, sondern die Übertragung der walzernden Seligkeit ins ureigene Brahminische Idiom. Alle Feinheiten des großen Kammermusikers - der Modulationsreichtum, das melodische Gepräge, die rhythmische Variabilität im Spiel mit dem Walzertakt - sind in diesen Vokalminiaturen präsent, ohne je den Anschein des Schlichten und Organischen zu beschädigen.

Das SWR Vokalensemble in Florian Helgaths Leitung fühlte bei einem der Chorfest-Eröffnungskonzerte diesen Preziosen den zärtlichen oder auch mal erregten Puls: mit aller Finesse der schmelzenden Phrasierung, luftig-duftigem Klang, delikatem Piano und konturiertem Forte - immer etwas im Clinch mit der unfreundlichen Akustik des Hegelsaals. Nicht auf deren Konto ging die flexible, aber nicht bis ins fesche Effeff schwingende Agogik. Da flog etwa der kleine, hübsche Vogel schon mal etwas hölzern über die Auftakte. Wunderbar filigran und doch prägnant indes das vierhändige Klavierspiel des grandiosen Duos Yaara Tal und Andreas Groethuysen.

Von Brahms’ Kunst der lakonischen Fülle hätte sich der Komponist Daniel Smutny, Jahrgang 1976, eine Scheibe abschneiden können. Seine uraufgeführten „Lieder einer Liebe“ für dieselbe Besetzung erwiesen sich als langwierige, bisweilen zähe Angelegenheit. Sie erklären in erster Linie der Musikgeschichte die Liebe: Von Schumann bis Bach, von Gustav Holst bis naturgemäß Brahms hat Smutny jedem der zwölf Teile seine werte Devotion einkomponiert. Das Resultat ist dann eben eine allzutiefe Verbeugung unter der Last einer übermächtigen Tradition, irgendwo zwischen Parodie und Stilkopie mit eigenen Duftnoten. Wobei ein Uralt-Meister wie Perotinus obendrein durch die Mittelalter-Mode eines Ravel oder Satie gefiltert scheint. Smutny geizt weder mit Neotonalem im Bogenschlag von der ersten zur letzten Akkord-Konsonanz noch mit geschmäcklerisch Dissonantem oder Humorigem à la Comedian Harmonists. Aber das Ganze wirkt wie eine Tonsatz-Übung in Historienresonanzen, sinnlich nur dank der vokalen Hochseilakte des wahrhaft exzellenten SWR Ensembles.