Provokativ konservativ: „Velbert, 07.02.06, 2006“ aus: „Neue Familienportraits 2005-2006“. Foto: Jaekel Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Esslingen - Es sieht verheerend aus: überall Scherben, Trümmer, Asche, Löschwasser. Tobias Yves Zintels autistischer Bruder hatte das elterliche Haus in Brand gesteckt, die Mutter erfuhr davon beim Einkaufen. Freimütig gewährt der Künstler Einblick in seine eigene Familie, die einer harten Belastungsprobe ausgesetzt war. Er musste ein paar Umwege gehen, sonst hätten die Eltern wohl nicht mitgespielt.

Freilich geht es ihm nicht um den voyeuristischen Blick auf ein privates Problem, sondern darum, was Familie psychisch bedeutet: Zusammenhalt und Spannungen. Kein Zeitpunkt wäre für dieses Thema besser geeignet als die Tage um das Familienfest Weihnachten. Insofern kommt die Ausstellung in der Villa Merkel zur rechten Zeit, auch wenn das „Fest der Liebe“ in den künstlerischen Arbeiten nicht auftaucht.

Verena Jaekel zeigt klassische Familienporträts, geradezu konservativ in der Inszenierung. Nur dass es sich um gleichgeschlechtliche Ehen handelt. Das Format des frontalen Porträts wählt auch Candice Breitz. In bewegten Einzelporträts, jeweils paarweise nebeneinander, interviewt sie eineiige Zwillinge. Optisch kaum unterscheidbar, haben sie doch verschiedene Geschichten zu erzählen. Gillian Wearing hat dagegen eine Mutter und ihre zwei pubertierenden Söhne gefragt, was sie jeweils voneinander halten. Im Video spricht dann allerdings die Mutter die Aussagen der Söhne und umgekehrt, also jeder über sich selbst. Wer sich ein wenig darin wiedererkennt, dem bleibt das Lachen im Halse stecken.

Nur konstruierte Kriterien

In den zentralen Erdgeschossräumen der Villa ist rechts scheinbar ein klassisches Wandbild angebracht. Vitrinen stehen im Raum, eine Landkarte des afrikanischen Kontinents hängt auf dem Kopf - aber wer sagt, wo oben zu sein hat? Wer wissen will, was das alles zu bedeuten hat, kann es sich von Simon Fujiwara selber erklären lassen, der im Video an genau jenem Tisch sitzt, der real vor der Videoleinwand steht. Es ist das „Museum of Incest“, und Inzest steht hier einerseits für ein Tabu, andererseits für die Enge der Klassifikation nach Kriterien wie Rasse und Ethnie, in die sich Fujiwara als Sohn eines Japaners und einer Britin sowieso nicht einordnen lässt. Der Künstler zieht daraus die Erkenntnis, dass solche Kriterien nur konstruiert sind, und führt in seinem Museum die Konstruktion vor Augen.

Nina Katchadourians Vater ist Armenier, aber in der Türkei aufgewachsen, und hat ihre Mutter, eine schwedischsprachige Finnin, in Beirut kennengelernt. In einer Sechskanal-Videoinstallation zeigt die Künstlerin, wie sich ein New Yorker Sprachtherapeut vergeblich bemüht, ihnen die angesammelten Akzente abzugewöhnen: Scheinbar Bedingung für eine gelungene Integration, hieße dies in Realität, die eigene Identität zu verleugnen. Für Johannes Paul Raether ist Identität ohnehin nicht einfach gegeben. Er nimmt ständig neue, künstliche Identitäten an und performt als Avatar in einer Ikea-Niederlassung, wo - und das ist der Clou - in Form von Küchen und Wohnzimmern ebenfalls auswechselbare Identitäten angeboten werden.

Dass sich der Mensch freilich nicht auswechseln lässt, zeigt Omer Fast in seinem 40-minütigen Video über einen aus dem Afghanistankrieg heimgekehrten Sohn, der sich freilich als Fake entpuppt, denn die Eltern haben ihn nur engagiert, ihnen diese Rolle vorzuspielen.

In Erlangen, wo die Ausstellung bis auf die Arbeiten von Fast und Byung Chul Kim zuvor schon zu sehen war, gab es auch ein Symposium zum Thema, dessen Beiträge im Katalog abgedruckt sind: Eine gute Gelegenheit, das Thema weiter zu vertiefen, allerdings unter einer bedauerlichen Verengung des Blickwinkels. Denn es geht ausschließlich um die Kleinfamilie und den Wandel der traditionellen Rollenbilder in Zeiten von Lebensabschnittsgemeinschaften, Patchworkfamilien und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Historisch betrachtet ist die Kleinfamilie jedoch nur ein Spezialfall. In globaler Perspektive spielen Familienbande in einem viel weiteren Verständnis fast überall eine große Rolle, die gerade im Kontext der Migration häufig positiv bewertet wird.

In der Kunst kommt dies auf erfreuliche Weise dann doch zum Vorschein. Fotos von einer Hochzeit, Keramik, die einfachen Häuser im marokkanischen Rif-Gebirge: Fadma Kaddouri hebt die emotionalen Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion hervor. Der Roman „Le pain nu“ von Mohamed Choukri erzählt vom Hunger, der in die Emigration treibt. Besprochene Cassetten dienten den Familien mangels guter Telefonverbindungen als Briefersatz. Eine bunte Linie an der Wand aus mit Seide umwickelten Bambusstücken symbolisiert die Reise und folgt zugleich den Konturen eines weiblichen Körpers.

Jedes Jahr von Mutter angespuckt

Byung Chul Kim reflektiert in großen Bleistiftzeichnungen sein inniges Verhältnis zu seinem Vater und seiner Großmutter. Eine andere Art von Verwandtschaft ist für Kim ebenso wichtig: im feinen Netz der Verbindungslinien zwischen den Namen der Künstler, die sich mit Albrecht Dürers Kupferstich „Nemesis“ auseinandergesetzt haben, zeichnet sich deutlich der Flügel der Glücksgöttin ab, in die Dürer, nach seiner in Vorlage, einem Gedicht des Humanisten Angelo Poliziano, die griechische Rachegöttin verwandelt. Haejun Jo hat dagegen seinem Vater, einem früheren südkoreanischen Minister, vom arabischen Frühling erzählt. In die Bilder, die dieser daraufhin von den Ereignissen anfertigt, mischen sich unwillkürlich seine eigenen Erfahrungen aus der Zeit der koreanischen Demokratisierungsbewegung.

Dass Familie nicht nur aus Liebe besteht, zeigt auf hinreißend lakonische Weise der isländische Künstler Ragnar Kjartansson, der sich einmal im Jahr von seiner Mutter anspucken lässt. Die zerbrechliche Beziehungswelt der Ausgestoßenen, die keine Familie haben, erscheint dagegen in den berührenden Aufnahmen von Nan Goldin. Am 18. August 1993 eilte sie vom Krankenhausbett Alf Bolds, der sie als Leiter des Arsenal-Programmkinos elf Jahre zuvor nach Berlin geholt hatte, zur Geburt eines Kindes von Freunden. Als sie zurück kam, war Bold tot.

Die Ausstellung in der Villa Merkel läuft bis zum 26. Februar und ist dienstags von 11 bis 20 Uhr und mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet und zusätzlich am Montag, den 26. Dezember.