Foto: Klaus Mocha

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Und sie tanzt immer noch: Ende April wird sie im Opernhaus Julias Amme sein in John Crankos „Romeo und Julia“, wird sich von Romeo verschämt herumwirbeln lassen und ihn zur heimlichen Hochzeit bringen, bei der sie vor 55 Jahren selbst die Julia war. Auch mit 80 Jahren ist Marcia Haydée nicht von der Bühne zu kriegen, auf der sie ihr Leben lang tanzte, auf der sie glänzte, litt, starb und lachte, auf der sie Tatjana, die Widerspenstige und die Kameliendame war, Schwan und Hexe, Verführerin und Erlöserin.

Um sie zu seiner Ballerina zu machen, musste der frisch gekürte Ballettdirektor Cranko 1961 seinen Generalintendanten Walter Erich Schäfer regelrecht erpressen, wollte der doch nicht einsehen, was so besonders war an dem unauffälligen Mädchen, das fürs Corps de ballet vortanzte. In den wenigen Stunden, die sie mit Cranko trainiert hatte, verstand die gerade arbeitslos gewordene Tänzerin ganz genau, wohin der Choreograf mit seinen Schrittkombinationen wollte, und er spürte das: „In Wirklichkeit waren Marcias Fähigkeiten bereits von Anfang an vorhanden; ich habe nur zu ihrer Freisetzung beigetragen“, sagte er später.

Seitdem ist Haydée das Zentrum der Stuttgarter Ballettfamilie geblieben und wird noch immer heiß geliebt. Es kann passieren, dass eine spontane Ovation im Haus entsteht, wenn sie nach längerer Abwesenheit wieder in der Loge sitzt, um eine Wiederaufnahme ihres „Dornröschen“ zu sehen. Seit die meisten Ballettbesucher denken können, war Haydée immer da: als Ballerina, dann als Direktorin, moderne Tänzerin, und nun als Charaktertänzerin und Coach, wenn sie mit den jungen Tänzern an Cranko-Balletten feilt. Sie ist der gute Geist des Stuttgarter Balletts.

Neues Rollenfach etabliert

„Mein größtes Glück war der Tag, an dem ich John Cranko traf“, sagte die als Marcia Haydée Salaverry Pereira da Silva geborene Brasilianerin einmal. So lange er in Stuttgart arbeitete, war sie seine Muse, das Gefäß seiner Kunst. In seinen Werken prägte sie den Begriff der dramatischen Ballerina, der Tanzschauspielerin, der sich quasi als neues Rollenfach im Ballett etablierte. Natürlich war Haydée nicht die erste Ballerina, die durch ihre Expressivität beeindruckte, aber in den Handlungsballetten der Vor-Cranko-Zeit gab es durchaus noch die Trennung von Tanz und Pantomime. Ballett als Schauspiel war neu, Marcia Haydée nahm jede Rolle und machte einen Menschen daraus. „Sie war eine Dramatikerin auf Spitze, eine Tragödin im Ballettschuh“, schrieb der Berliner Kritiker Klaus Geitel über Haydée, einer ihrer größten Verehrer.

Eine Schönheit im herkömmlichen Sinn war sie nicht, vergleicht man sie etwa mit den makellos perfekten Körper Birgit Keils. Aber Haydées ausdrucksvolles Gesicht mit den großen, weisen Augen sieht auf jedem Bild anders aus, weil sie sich immer vollkommen in die Figur verwandelte, die sie darstellte (darin ähnelt sie übrigens Vaslaw Nijinsky). Die Schönheit ihrer schwebenden, sprechenden Arme ist bis heute ein Vorbild, das kaum eine Ballerina erreicht. Was nachfolgende Generationen von ihr lernten, ist die Spannung, die Expressivität des gesamten Körpers, gerade in den Hebungen: „Cranko sah mich immer oben“, lacht sie gerne, in den Momenten höchsten Glücks ließ er sie minutenlang schweben, im Spiegel-Pas-de-deux in „Onegin“ zum Beispiel.

Haydée hat mit allen den Großen ihrer Zeit getanzt, mit Nurejew, Baryschnikow und 30 Jahre lang mit Richard Cragun. Historisch reiht sie sich in die Reihe der legendären Ballerinen wie Galina Ulanowa, Margot Fonteyn oder Maja Plissetzjaka ein und hat den inflationär verwendeten Titel Primaballerina - die herausragende unter den ersten Solistinnen - wirklich verdient, obwohl ihn die uneitle Künstlerin stets ablehnte. Nach Crankos plötzlichem Tod wollte sie aufhören zu tanzen, ihre „Familie“ schließlich war es, die Kollegen, die sie nötigten, sein Werk als Direktorin fortzuführen. Von 1976 bis 1996 leitete Haydée das Stuttgarter Ballett, ganz im Sinne Crankos, indem sie kompromisslos neue Choreografen suchte und aufbaute, die für ihre Tänzer neue Werke schufen. William Forsythe und Uwe Scholz begannen ihrer Karrieren unter Haydée, sie holte Maurice Béjart und Hans van Manen nach Stuttgart.

Kluge Selbsterkenntnis

Sie bewahrte das Vermächtnis des Cranko’schen Ballettwunders und man kann die kluge Selbsterkenntnis nicht hoch genug einschätzen, mit ihrem Abschied 1996 den Platz frei zu machen für eine weitere Erneuerung aus der Tradition heraus. Natürlich holte ihr Nachfolger Reid Anderson, der selbst lange mit ihr getanzt hatte, sie schon nach kurzer Zeit auf die Stuttgarter Bühne zurück, wo die Choreografen weiterhin, auch das ein Ballettwunder, neue Rollen für sie kreierten. Das Schönste ist, sie auch mit 80 Jahren immer noch hier zu wissen, in Stuttgart, bei ihrer Kompanie, bei ihrem Publikum, das sie bis heute „das beste der Welt“ nennt.

Am 30. April unterhält sich Marcia Haydée um 12 Uhr im Opernhaus mit dem designierten Ballettintendanten Tamas Detrich über ihre Karriere. Karten unter: www.stuttgarter-ballett.de.

Am gleichen Abend wird das Porträt „Tanz ist meine Religion“ von Norbert Beilharz um 19 und 21 Uhr im Kino Atelier am Bollwerk gezeigt.

Am 30. Mai wird Haydée in beim Prix Benois in Moskau mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.