Unwiderstehlich: „Etüden“ für die John-Cranko-Eleven von Schulleiter Tadeusz Matacz und seiner Frau Barbara. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Mit Stolz kann Reid Anderson die Leistung der John-Cranko-Schule zwischen den vielen Höhepunkten der Festwoche zu seiner 20-jährigen Intendanz einreihen. Deshalb gab es zu diesem Anlass eine große Uraufführung: Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit dem nicht sehr barock klingenden Staatsorchester und vier Choreografen aus dem Stuttgarter Ballett. Die für jede Jahreszeit im Stil unterschiedlichen, anfangs herrlich blümeranten Kostüme schuf der ehemalige Tänzer Thomas Lempertz, der als Ballettausstatter immer gefragter wird. Dennoch wäre ein verbindendes Element vielleicht nützlich gewesen, auch in der Anlage der Choreografie; so fiel die ambitionierte Unternehmung etwas disparat aus, zumal die vier Teile auch in sich nicht immer aufgingen. Ein klein wenig Struktur statt der vielen intellektuellen Assoziationen hätte sicher gut getan.

Am ehesten orientierte sich noch Katarzyna Kozielska am Thema: Ihr „Frühling“ evozierte Bilder von Blumenkindern, ja von Adam und Eva. In einer liebevollen Kombination ließ sie kleine Mädchen minutenlang über großen Jungs schweben. Im Stil erdiger und weniger klassisch, ignorierte Louis Stiens sein Thema „Sommer“ weitgehend - oder waren die fünf Jungs in blauen Umhängen Trolle, Sommernächte, Badeseen? Fabio Adorisio spielte mit übergroßen gelben Regenmänteln und merkwürdigen Posen, aber auch er destillierte keine erkennbare Form aus der Dreisätzigkeit der Vivaldi-Konzerte. Demis Volpi schuf für den Winter einen erstaunlich klassischen Pas de deux, in dem Eun-Sil Kim und Nikita Korneev zwar glänzten, der aber ebenfalls etwas nichtssagend blieb. Die Schüler hatten immerhin reichlich zu tun, nur wenige andere Acht- oder Zwölfjährige können stolz darauf sein, dass bereits Rollen für sie kreiert wurden.

Wie schon bei der Jubiläumsgala vor fünf Jahren hatte Schuldirektor Tadeusz Matacz Gäste aus den befreundeten großen Ballettschulen der Welt eingeladen, die sogar fast die gleichen Stücke wie damals mitbrachten. Paris zeigte hehre Klassik, und noch immer können sich die Akademieschüler nicht so strahlend verkaufen wie ihre Kollegen aus anderen Metropolen. Die absolut sichere Célia Drouy und der etwas weniger originelle Andrea Sarri sind beide bereits fürs Ballett der Opéra engagiert, sie hätten allen Grund, stolz auf sich zu sein. Von der Londoner Royal Ballet School zelebrierten Sae Maeda und Nicholas Landon den schönen „Concerto“-Pas-de-deux von Kenneth MacMillan mit einer feinen Phrasierung des Adagios. Zwischen Daina Zolty und Siphe November von Canada’s National Ballet School fühlte man in „I loves you, Porgy“ eine warme Liebe, Demis Volpi war zu Gershwins Musik ein weit schönerer Pas de deux gelungen als zu Vivaldi. Sechs charakterstarke Meisterschüler tändelten und flirteten durch die ländliche US-Idylle von John Neumeiers „Yondering“, einem Signaturstück der Hamburger Ballettschule.

Gegen die geballte Kunst ihrer internationalen Kollegen schnitten die Stuttgarter nicht schlecht ab, ganz im Gegenteil: Wie sie die wahnwitzig schnellen Bewegungen Marco Goeckes auf den Jazz Nina Simones setzten, wie sie seinen flirrenden Stil verinnerlicht haben, das macht ihnen so schnell keiner nach. „A Spell on You“, im Mai für die Cranko-Schule entstanden, ist das beste Stück, das unser „Choreograf des Jahres“ in dieser Spielzeit gemacht hat, „Nijinski“ hin oder her. Gegen die „Etüden“ ist ohnehin Widerstand zwecklos, selbst in der Kurzfassung wie hier zum Abschluss der schönen Gala: Angefangen bei den Rhythmusübungen der kleinen Vorschüler bis zu den virtuosen Tricks der 18-jährigen Absolventen versammelten Schulleiter Tadeusz Matacz und seine Frau Barbara sämtliche Schwierigkeitsgrade in einer abstrakten, funkelnden Demonstration des akademischen Schrittmaterials. Auch der Applaus hatte Gala-Format.