Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Endlich tanzen sie wieder modern: Nach drei Handlungsballetten steht beim Stuttgarter Ballett wieder die Stilvielfalt zeitgenössischer Choreografen im Fokus. Der Abend „Verführung“ zeigt vier völlig unterschiedliche Handschriften und die immer wieder erstaunliche Fähigkeit der Stuttgarter Tänzer, zu den perfekten Instrumenten neuer Tanzschöpfer zu werden.

Katarzyna Kozielska hat sich den ältesten Stil für das modernste Thema ausgesucht: Auf Spitze und mit klassischer Virtuosität untersucht sie die dunkle Verführung durch Macht, Religion oder soziale Medien. In ihrer Uraufführung „Dark Glow“ lockt ein Licht aus der Höhe verschiedene Gruppen an, sie huldigen ihm und verdummen dabei regelrecht. Wie raffiniert die dunkel glühende Macht alle Menschen gleichschaltet, zeigt das Stück anhand der pastellfarbenen Unisex-Kostüme von Thomas Lempertz, die sich unvermittelt ins Schwarze wenden. Wenn die Kommunikation versiegt und alle den neuen Gott anbeten, wehrt sich nur ein Paar bis zuletzt, Elisa Badenes und Constantine Allen zeigen das in entschlossener Leidenschaft. Der Brite Gabriel Prokofiev hat dazu eine Musik geschrieben, in deren orchestrale Klangfarbenvielfalt eine elektronische Verschmutzung eingreift und in Computer-Rhythmen pulsiert. Nach einer riesigen, machtvollen Steigerung tröpfelt sie am Ende ratlos aus. Kozielskas Bilder sind klar verständlich, vielleicht sogar zu einfach, aber noch sticht das Virtuose zu stark als ausgestellte Technik heraus, nicht als emotionale Notwendigkeit.

Faszinierende Interpreten

„Faun“ entstand 2009 in London zum 100-jährigen Jubiläum der Ballets Russes, wo einst „L’Après-midi d’un faune“ einen der vielen Skandale dieser Kompanie verursacht hatte. Sidi Larbi Cherkaoui setzt hier der reliefartigen, abgezirkelten Uraufführungschoreografie von Vaslaw Nijinsky ein völlig gegensätzliches, unbewusstes Fließen und Gleiten gegenüber. Tief im Wald, so suggeriert das Hintergrundbild, begegnen sich zwei Wesen aus dem Zwischenreich. Der Faun und die Nymphe bewegen sich unschuldig wie Kinder oder neugierige Tiere: Wo er fast knochenlos über den Boden hurgelt und sich seiner Gliedmaßen staunend bewusst wird, finden sich in ihren Bewegungen fernöstliche Elemente. Der britische Komponist Nitin Sawhney schrieb musikalische Einschübe aus Mönchsraunen und indischen Glöckchen, die, bringt man die Toleranz für die Unterbrechung auf, Claude Debussys verträumten Impressionismus in mystische Bereiche fortschreiben. Wenn die beiden Wesen endlich aufeinandertreffen, erspüren sie sich mit ihren gesamten Körpern: Seine Zehenspitzen streicheln ihre Arme, ihre Rücken verschmelzen, sanft gleiten ihre Leiber in- und durcheinander. Cherkaoui zeigt den unschuldigen Tanz von Naturwesen in einer Zeit vor aller Aufklärung, aller Grausamkeit der Menschen (und aller Danse d’école). Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels sind seine zarten, wilden, faszinierenden Interpreten.

Auch „Le Spectre de la Rose“ wurde einst durch Nijinsky berühmt, das kurze Ballett zeigt eine Frau, die vom Geist einer Rose träumt. Mit wehenden Rosenblättern und einem ziemlich irren Geist macht sich Marco Goecke darauf seinen eigenen, exzentrischen Reim. Für ein Goecke-Ballett zeigt das Stück ungewöhnlich viel Hüftschwung, er wird gar zu einem der Leitmotive. Der Stuttgarter Hauschoreograf ignoriert geflissentlich das musikalische Stichwort für den großen Auftritt des Rosengeistes, lässt den grandios agilen Adam Russell-Jones lieber später hereintänzeln und frenetisch auf der Stelle hüpfen. Goecke spielt mit der Vorlage, zitiert verträumt eine Nijinsky-Pose und reagiert auf Carl-Maria von Webers jubelnden Walzer auch mal mit erstaunter Ironie. Wie so oft nimmt er nicht die musikalische Struktur zur Kenntnis, sondern quasi nur die Schaumkrönchen der Partitur. Im virtuosen Einsatz feinster Echos des akademischen Vokabulars fällt wieder einmal auf, was für ein meisterhafter Handwerker dieser Choreograf bei all seinen durchgeknallten Ideen ist. Schwerelos huscht der Tänzer über die Rosenblätter, verkrallt sich in die Luft, umschwänzelt die in sich versunkene Agnes Su und wird zu ihrem liebenden, lyrischen, duftigen Traum.

Nach so viel avantgardistischem Frevel an den alten Klassikern kam endlich die kollektive Verführung, für die sie alle ins Opernhaus gepilgert waren, die Landespolitiker, Wirtschaftsbosse und das komplett versammelte Stammpublikum: Friedemann Vogel tanzte Maurice Béjarts „Bolero“. Dass der runde rote Tisch wieder regelmäßig auf der Stuttgarter Bühne steht, ist gar nicht so selbstverständlich: Gerade verkündete die Direktorin des Pariser Opernballetts, wie stolz sie sei, die Rechte an Béjarts berühmtester Choreografie wieder ergattert zu haben. Das Staatsorchester unter James Tuggle allerdings machte den positiven Eindruck, mit dem es bis dahin bei Debussy, Weber und erst recht in Gabriel Prokofievs Uraufführung geglänzt hatte, durch stolpernde Solostimmen im Maurice-Ravel-Hit wieder zunichte. Aber egal, denn auf dem Tisch stand dieser unglaubliche Tänzer, der nicht nur souverän über jede winzige Regung seines Körpers gebietet, sondern die aufpeitschende, zerstörerische Kraft des Verführungsrituals geradezu genießt, bevor er sich ihr überlässt und darin untergeht. Ovationen, wie immer: Friedemann ist Kult.

Weitere Termine: 7., 8., 10., 11., 14., 23., 27. und 28. Februar, 4. und 7. März. Karten unter Tel. 0711-202090.