Ernst Ludwig Kirchner auf einem undatierten Foto. Quelle: Unbekannt

Von Christoph B. Ströhle

Balingen -Picasso, Chagall, Monet, Miro, Klee, Schmidt-Rottluff, Nolde, Klimt, Heckel: Die Liste der Künstler, die die Stadthalle Balingen seit 1981 präsentiert hat, ist lang. Jetzt kommt in einer Ausstellung mit dem Titel „Modelle, Akte und Kokotten“ der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) dazu. Die gezeigten Ölgemälde, Aquarelle, Holzschnitte, Lithografien und Radierungen wurden allesamt vom Brücke-Museum in Berlin zur Verfügung gestellt.

Wie die Co-Kuratorin und Organisatorin der Balinger Schau, Annette Vogel, betont, handelt es sich nicht um eine Wanderausstellung, sondern um eine eigens kreierte Präsentation, die so nur in Balingen zu sehen ist. Mit Kirchner zeige man „den größten, den schillerndsten, den bedeutendsten deutschen Expressionisten“, so Vogel. Er sei das Gesicht des deutschen Expressionismus.

Im Mittelpunkt der Auswahl, die Kirchners Werk von den Dresdner Anfängen 1905 bis zu seinem Freitod in Davos 1938 vorstellt, steht die Berliner Zeit ab 1911. Die Metropole lässt den Strich des „Brücke“-Künstlers kantiger werden, die Farbpalette gebrochener und differenzierter. Kirchner hatte zuvor mit den Dresdner Studienkollegen Erich Heckel, Karl Schmitt-Rottluff und Fritz Bleyl und einer neuen flächig-farbigen Malerei, mit Holzschnitten und dynamischen Zeichnungen die akademische Tradition aus den Angeln gehoben.

Halbweltdamen am Ku'damm

Auch wenn sich die „Brücke“ 1913 auflöste, blieb Kirchner dem von der Künstlergruppe postulierten Streben nach höchster Authentizität des emotionalen Ausdrucks treu. Im für den aus dem beschaulicheren Dresden kommenden Kirchner ungewohnt hektischen Treiben Berlins mit Straßenbahnen, Droschken, ersten Autos und einer lebhaften Café-, Varieté- und Tanzszene zeichnet er, wie es selbst sagt, „bis zur Raserei“. Die werbenden Halbweltdamen am Potsdamer Platz und auf dem Kurfürstendamm hält Kirchner in virtuosen Bleistift-, Kohle- und Federzeichnungen fest, ebenso die große Dynamik im Herzen der Stadt.

Kirchners Straßenbilder der Vorkriegs- und Kriegszeit sind Sinnbilder für den Niedergang des Kaiserreichs im Umbruch zur Moderne geworden. In Selbstzeugnissen hat sich Kirchner über die damit assoziierte Einsamkeit und Vergänglichkeit geäußert. So schreibt er im Kriegsjahr 1916 angstvoll in einem Brief an den Hamburger Mäzen, Sammler und Kunstkritiker Gustav Schiefler: „Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg.“

In der Dresdner Zeit waren für Kirchner neben Erich Heckel und seiner damaligen Freundin Doris Grosse, genannt Dodo, vor allem die Mädchen Fränzi und Marcella aus der Nachbarschaft des Arbeiterviertels in Dresden-Löbtau bevorzugte Modelle. Dabei war es in erster Linie die kindlich-frische Art der Mädchen, die Kirchner und auch Heckel und Max Pechstein faszinierte. Etliche Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle entstanden in den Sommermonaten 1909 und 1910 bei gemeinsamen Aufenthalten an den Moritzburger Teichen nahe Dresden.

Kirchners Gemälde „Artistin - Marcella“ aus dieser Zeit, das in heiterer Farbigkeit das junge Mädchen in Gedanken versunken auf einem Sofa zeigt, gehört zu den anmutig-poetischen Glanzstücken der Balinger Ausstellung und ziert auch die Flyer und Plakate.

Das besondere Verhältnis, das Kirchner mit dem Literaten Alfred Döblin verband - beide tauschten sich in intensiven Gesprächen über ihre Ansichten aus -, hat seinen Niederschlag in Zeichnungen gefunden, in denen Kirchner das Konterfei des Schriftstellers mit schnellen Strichen festhielt. Eine dieser Zeichnungen und auch eine, die Otto Klemperer am Klavier zeigt, sind in Balingen zu sehen. Kirchner begegnete dem Dirigenten und Komponisten bei einem seiner Sanatoriumsaufenthalte.

Die hochkarätigen Ölbilder, allesamt Meisterwerke des Expressionismus, sind so angeordnet, dass mehr als 100 Arbeiten thematisch auf sie hinführen und Entdeckungen ermöglichen. Etwa wenn es um Kirchners immerwährende Faszination von Bewegung und Tanz geht. Legendäre Ausdruckstänzerinnen wie Mary Wigmann und Gret Palucca inspirierten ihn zu großformatigen Holzschnitten und bewegten Zeichnungen. Darüber hinaus hielt der Künstler ihren Nackt-Tanz auch in Fotografien fest. Sie stehen für sein zeitgeistiges experimentelles Streben, die Natur des Menschen in aller Anmut und Bewegung festzuhalten, und dienten ihm vereinzelt als Vorlage seiner Bilder, erklärt Annette Vogel.

In der Davoser Abgeschiedenheit

Selten außerhalb Berlins zu sehen ist das großformatige Ölgemälde „Frauen im Bade“ (1911). Seine exotische Sinnlichkeit geht auf die indische Malkunst der Ajanta des sechsten Jahrhunderts zurück. Den Schlusspunkt setzt das Ölbild „Schafherde“. Das in der Davoser Abgeschiedenheit entstandene Bild ist Kirchner letztes Werk, bevor er sich im Juni 1938 mit einem Pistolenschuss das Leben nimmt.

Die Ausstellung in der Stadthalle Balingen ist bis 3. Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr, dienstags bis 21 Uhr geöffnet. Der Katalog zur Ausstellung (228 Seiten, Verlag Hirmer), kostet 39,90 Euro.

www.stadthalle-balingen.de

Parallel zur Kirchner-Ausstellung zeigt der Medienkünstler Wolf Nkole Helzle in der Balinger Zehntscheuer bis 3. Oktober täglich von 13 bis 18 Uhr fotografische Verdichtungen, hinter denen sich jeweils Hunderte einzelner Landschaftsaufnahmen oder Tausende Personenporträts verbergen. Außerdem sind im Rahmen des Kunstsommers Balingen in der Rathausgalerie werktags von 8 bis 18 Uhr und sonntags von 13 bis 18 Uhr Arbeiten auf Papier aus Privat- und Galeriebesitz von Markus Lüpertz zu sehen. Der Eintritt zu diesen beiden Begleitausstellungen ist frei.

Ein Von den Nationalsozialisten verfemter Künstler

Der Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kirchner wird am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg geboren. Er studiert Architektur an der Technischen Hochschule in Dresden. Gemeinsam mit den Studienkollegen Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl gründet er im Juni 1905 die Künstlergruppe „Brücke“. Ihr Ziel: künstlerische „unmittelbar“ und „unverfälscht“ zu arbeiten. Kirchner verfasst die „Chronik der Brücke“. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über diese Schrift löst sich die Gruppe im Mai 1913 auf. Seine erste Einzelausstellung im Museum Folkwang etabliert Kirchners Werk im zeitgenössischen Kunstgeschehen. In Berlin meldet er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger und wird Fahrer bei einem Artillerieregiment. Nach einem Nervenzusammenbruch wird er Ende 1915 als Soldat untauglich geschrieben. Trotz Kriegsdienst und Krankheit arbeitet Kirchner als Künstler stetig weiter. 1918 siedelt er nach Davosüber. Er nimmt 1928 an der Biennale in Venedig teil, 1931 an der Ausstellung „German Paintings and Sculpture“ im Museum of Modern Art in New York. Kirchner wird von den Nationalsozialisten als „entarteter“ Künstler diffamiert, über 600 seiner Werke werden aus Museen entfernt und später zum Teil ins Ausland verkauft oder zerstört. 1937 wird er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen. Am 15. Juni 1938 nimmt sich Kirchner in Frauenkirch-Wildboden bei Davos mit einem Herzschuss das Leben.