Uniformes Monologisieren: Szene aus „Dysmorphomanie“. Foto: J. Marbach Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart -Eigentlich ist „Dysmorphomanie“ von Vladimir Sorokin, einem der wichtigsten Autoren der russischen Postmoderne, ein ziemlich gewalttätiges Stück. Es geht um sieben Insassen einer Psychiatrie, die alle unter dem Wahn leiden, einen körperlichen Defekt zu haben, den sie zwanghaft zu verbergen suchen. Die eine leidet unter ihren angeblich so „abnorm fetten Beinen“ - weswegen sie ihren Mageninhalt stets lieber in einem Einmachglas bei sich trägt. Die andere beklagt ihren „Hühnerhals“, den sie mit einer Halskrause verdeckt. Ein Anderer trägt einen merkwürdigen „Geradehalter“, um seinen nicht vorhandenen Buckel zu bekämpfen. Die „Heil-Methoden“ des Psychiatrie-Personals sind brutal. Die Patienten werden entkleidet, gedemütigt, ihrer selbst angefertigten „Prothesen“ entledigt, und das erzwungene therapeutische Theaterspiel frei nach Shakespeares endet schockierend mit dem Tod des Septetts: Über den „verstümmelten, blutigen Überresten ihrer ehemaligen Besitzer“ rotieren monströs „holographische Darstellungen“ ihrer Prothesen.

Subtiles Theater der Grausamkeit

In der jüngsten Premiere im „Nord“ des Staatstheaters Stuttgart tritt dieses „Theater der Grausamkeit“ allerdings subtiler in Erscheinung. Das Pflegepersonal ist gestrichen, die sieben Insassen mutieren zu Schauspielern, die sich abgeschlossen von der Welt in einem Abstellraum mit ihrer Profession beschäftigen. Aus der Gruppenarbeit aus Fitnessübungen zu Wellnessmusik und Buckelwalgesang, Stuhlentspannung und Umfallübungen tritt man einzeln zum Monolog heraus: Die intim-peinlichen Krankenakten der Patienten, die im Original von einer unbekannten Macht aus dem Off gesprochen werden, verwandeln sich nun in Lebensgeschichten der Darsteller. Realität und Fiktion verschwimmen, was manchmal geradegerückt wird, wenn Streitereien auf Russisch das Spiel unterbrechen. „Dysmorphomanie“ wird zum Material für zur Schau gestelltes Method Acting: Strasbergs freudianische Schauspielmethode, die darauf zielt, Erinnerungen an eigene Erlebnisse in die Darstellung eingehen zu lassen. Das Sprechen über das Selbst rege die Fantasie, das Un- und Vorbewusste an als das stärkste Mittel der künstlerischen Arbeit, so Strasberg. Das hat seine Logik, denn das Stück wurde erarbeitet von Schauspiel-Studenten der Staatlichen Hochschule für darstellende Kunst Stuttgart, und es inszenierte deren Dozent für Rollenspiel, der Staatstheaterschauspieler Wolfgang Michalek. Es ist richtig gutes Theater daraus geworden dank wunderbarem, mitreißendem Ensemble-Spiel.

Nach und nach schlüpfen die Monologisierenden mitsamt ihren defektsymbolisierenden Requisiten in die grellen, renaissancezitierenden Kostüme von Sara Kittelmann, bis Sturmgeheul und Finsternis den Beginn des Spiels im Spiel markieren, in dem Julia nicht Romeo, sondern Hamlet liebt. Die Anweisung „Spielen!“ auf der Anzeigetafel deutet an, dass hier offenbar von außen beobachtet wird. Ist es gar Antonin Artaud persönlich? Zumindest seine Stimme hört man aus dem Off, wie sie wortreich Theater mit der „Pest“ gleichsetzt. Artaud war selbst periodisch Anstaltsinsasse und Beschwörer von Weltuntergängen, der mit seinem „Theater der Grausamkeit“ in den 1930er-Jahren ein Katastrophentheater im Kopf hatte, das sich im Niedertrampeln von alles und jedem vollziehe.

Auf der Bühne von Julian Marbach geht es derweil ruhiger zu: Das Unbewusste steht nun im Dienst der Liebe und der Elternkomplexe. Es beginnt mit dem Geist des Hamlet-Vaters: Die anderen haben sich angstvoll im Spint versteckt, eine fand nur noch Asyl unterm Bodenbelag und wird nun unfreiwillig zum Teppichgespenst. Es reihen sich nun surreale Szenen aneinander: Ein Telefon klingelt hoch oben unter der Hallendecke, es muss über gestapelte Möbel erklommen werden. Kurioser Mittelpunkt im Wirrwarr der Handlung: Mattea Cavic als bucklige Hexe mit verbeulter Haut und Kieferfixierungsmaske, wegen der sie nur nuscheln und krächzen kann (sie ist die „Patientin“ mit dem Kinn-Defekt). Herrlich grotesk, wie sie ans Klavier hinkt und die Hände mit virtuosem Schwung auf die Tasten hievt und dann verkrümmt und versunken melodisch minimalistische (Playback-)Melancholie verbreitet, während Julia und Hamlet sich ihre Liebe gestehen. Und großes Schauspiel, wenn Cavic, von Hexenoutfit und Gesichtsklemme befreit, ihren schier endlosen Leidensbericht leise, langsam, aber so fein moduliert spricht, dass alle Ohren ihr durchweg gebannt folgen.

Alles bloß ein Spiel

Am Ende legen auch die anderen ihre „Prothesen“ ab: Ognjen Koldzic seine Lid stützenden Löffel, Simon Mazouri seinen Pfropf (der der Verhinderung der Verbreitung von Körpergasen dienen soll), Viktoria Mikhnevich ihr Einmachglas mit Erbrochenem, Mark Ortel seinen Geradehalter aus Kleiderbügeln, Franziska Maria Pößl ihren Nasenverdecker und Vera Maria Schmidt ihre Halskrause. Alles nur Theater? In Reih und Glied an Waschtischen verformt sich das Septett die Gesichter mit Tonmatsch - was dann etwas langwierig wieder abgewaschen wird. Das Spiel ist aus, die Patienten leben noch.

Die nächsten Vorstellungen: 8. bis 10. sowie 16. April.