Von Ingo Weiß

Stuttgart - Er meditiert. Er macht Yoga. Er besitzt ein Weingut in der Toskana. Er pendelt zwischen seinem Wohnsitz New York und seiner Heimat im Norden Englands. Und auch künstlerisch ist Gordon Matthew Thomas Sumner, besser bekannt als Sting, ein Rastloser. Für den Popstar, die Stimme von „The Police“, bedeutet Kunst, konstant auf der Suche zu sein. Seine Neugierde führte dazu, dass der Mann aus Wallsend bei Newcastle im vergangenen Jahrzehnt Platten gemacht hat, die, gelinde gesagt, esoterisch angehaucht sind. Sein musikalisches Kaleidoskop führte ihn in die Welt des Musicals, der Orchester- und Weltmusik und auch vor einem Weihnachtsliederalbum machte er nicht Halt. Sting scheint ein musikalischer Alleskönner zu sein, auch wenn er damit den einen oder anderen Fan vor den Kopf stößt.

Allerdings hat sich der 65-Jährige wieder besonnen - auf seine DNA. Der Bart ist ab und sein aktuelles Werk ist endlich wieder ein Rock-Pop-Album. „57th & 9th“ ist ein kleines Meisterwerk, benannt nach einer Straßenkreuzung in Manhattan, die Sting täglich überquerte auf dem Weg zum Studio in Hell’s Kitchen, wo der Longplayer aufgenommen wurde. Das Album klingt eher nach dem jungen Sting respektive nach The Police. Viele Songs daraus spielt Sting in der ausverkauften Stuttgarter Porsche-Arena während seines 105 Minuten langen, grandiosen und mit kleinen und großen Sternstunden vollgepackten Konzerts.

An seiner Seite: Sohn Joe

Das autobiografische „Heading South on the great North Road“ gleich zu Beginn, noch vor dem Support-Act. Unprätentiös in blauem T-Shirt und schwarzen Jeans skizziert er das Stück akustisch und betörend. An seiner Seite sein 40-jähriger Sohn Joe Sumner, der ihm nicht nur äußerlich ähnelt, sondern auch fast so singt wie sein Vater. Dann verschwindet Sting und überlässt den fabelhaften texanischen Derwischen „The Last Bandoleros“ die Bühne zum Warm-up.

Später legt Sting das ungemein groovende und tanzbare „I can’t stop thinking about you“ nach. Das Lied handelt von Kreativität, konkret vom Schreiben. Wie ein Autor jeden Tag ein weißes Blatt vor sich hat und es füllen soll. Das ironische „One fine day“ ist ein zynischer Song über den Klimawandel, das er sarkastisch US-Präsident Donald Trump zuruft. Mitreißend zelebriert er das wild-rockige „Petrol Head“, derweil „Pretty young soldier“ fast ein klassischer Folk-Song mit klarem Storytelling-Fokus ist. Die neuen Songs sind auch live sehr direkt, sehr einfach und nisten sich angenehm in die Gehörgänge ein. Auch „50 000“, obwohl Sting darin den Tod einer Reihe von Freunden und Musikern wie Prince, David Bowie oder dem Schauspieler Alan Rickman thematisiert. „Rockstars, they never die, they only fade away“, singt er geradezu inbrünstig. Zuvor lässt er seinen Sohn mit „Ashes to Ashes“ eine faszinierende Hommage an den 2016 verstorbenen Bowie intonieren.

Doch Stings Blick geht noch viel weiter zurück. Erstaunlich viele Klassiker seiner ehemaligen Band The Police, deren größte Taten ja nun auch schon nahezu vierzig Jahre zurückliegen, streut der 16-fache Grammy-Gewinner in sein Set ein. Das fängt ansatzlos an mit dem Opener „Synchronicity II“ und dem nachfolgenden „Spirits in a material world“. Schon da hat er die 6500 Fans für sich eingenommen. Und es endet regulär mit dem vielleicht größten Police-Hit „Roxanne“ in einer brillanten Version. Der tangoorientierte Rhythmus und die scharfkantigen Gitarren werden geradezu himmlisch von Bill Withers „Ain’t no Sunshine“ durchbrochen. Von wegen. Stings Sonne strahlt heller denn je. Weitere Police-Hymnen wie die sensationell getimten „Walking on the Moon“ und „So lonely“ bescheren den Fans fast einen Hitzekollaps. Doch in einer aus den Fugen geratenen Welt ist Sting ein Kühlmittel für erhitzte Seelen, während er in sich ruhend leichthändig den Bass zupft und mit seiner einzigartigen, unverwechselbaren, keinerlei Abnutzungserscheinungen zeigende Stimme verzaubert. Natürlich spielt er auch „Message in a Bottle“. Denn genau so hat er einen seiner Weine benannt, die Trauben geerntet im eigenen Gut „Il Palagio“ in der Nähe von Florenz.

Begleiten lässt sich Sting, abgesehen von einem mehrköpfigen Bandoleros-Backgroundchor inklusive Joe, von einer nur dreiköpfigen Band, bestehend aus Schlagzeuger Josh Freese, seinem alten Spezi, dem Weltklasse-Gitarristen Dominic Miller sowie dessen Sohn Rufus an der Rhythmusgitarre. Es sind kongeniale Mitstreiter, die wunderbaren, messerscharfen oder herrlich verzerrten Gitarrenrock ausbreiten. Neuartige, teilweise reduzierte oder mit Akkordeon verfeinerte Arrangements lassen altbekannte Stücke in neuer Pracht erscheinen: energisch, laut und gedankenvoll. Manchmal, sagt Sting, muss man die Dinge einfach aus einer anderen Richtung betrachten; egal, wie überzeugend der eigene Standpunkt vorher gewirkt haben mag. Wie beispielsweise bei „Englishman in New York“, die Ode an den britischen Homosexuellenaktivisten Quentin Crisp, die Sting betörend verfremdet.

Die Wirkung der Lieder wird noch verdreifacht durch einen knackigen, magengrummelnden Rocksound und das wirkungsvolle Licht. Es ist erstaunlich, wie der spielfreudige und gertenschlanke Sting, der ansonsten nur wenig Worte verliert, mit einfachen, schnörkellosen Mitteln die Fans mitreißt. Wie bei der mit französisch klingendem Akkordeon unterlegten, wunderbar gemalten Ballade „Fields of Gold“ oder beim arabesken „Desert Rose“, bei dem er seine vokale Klasse ausspielt und Musik wie aus 1001 Nacht erzählt.

Als erste Zugabe kracht der Uptempo-Song „Next To You“, ein Police-Stück von 1978, in die Arena. 2010, damals in der fast ausverkauften Schleyer-Halle, misslang Sting das Liebeslied. Diesmal packt er eine geradezu punkige Aggressivität hinein und lässt den Police-Spirit von einst aufleben. „Every Breath you take“, einer der Klassiker der Rockmusik-Literatur, folgt als endgültiger Police-Schlusspunkt.

Fast meditativ beendet Sting mit „Fragile“ sein überragendes Konzert. Das nachdenkliche Momentum just am Tage des Brexit-Antrags ist das Sahnehäubchen eines grandiosen und perfekten Abends. Sting ist zurück, rockig, so wie wir ihn lieben. Man darf gespannt sein, wohin ihn seine Neugierde zukünftig führt. Ihn, den endlosen Entdecker, den auch wir wiederentdeckt haben.