Kriegstrauung von Paul Hub und Maria Thumm am 11. Juni 1918. Foto: HStA Stuttgart Q 2/31 Bü 6 Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Der Erste Weltkrieg rückte zuletzt wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Besonders im Jahr 2014, als sich der Kriegsbeginn zum 100. Mal jährte, beleuchteten zahlreiche Buchpublikationen, Zeitungsserien und TV-Produktionen die verschiedensten Facetten dieses „Großen Krieges“, der nach einer jahrzehntelangen Friedensepoche in Europa das bürgerliche Zeitalter abrupt beendete. Viele dieser Impulse wirken weiter. Im Jahr 2016 galt das Gedenken vor allem den „Materialschlachten“ bei Verdun und an der Somme, die hunderttausende Tote und Verwundete forderten.

Die Geschichte dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, des erstmals in industriellem Stil betriebenen Mordens zwischen 1914 und 1918, besteht aus vielen Geschichten - Einzelschicksalen von Millionen von Zivilisten und Soldaten aller am Krieg beteiligten Nationen, von denen wir heute in vielen Fällen kaum mehr etwas wüssten, hätten sie nicht in den Archiven ihre Spuren hinterlassen. Die Generation der Zeitzeugen ist nicht mehr am Leben, umso wichtiger sind die überlieferten schriftlichen und bildlichen Quellen. Das gilt auch für das ehemalige Königreich Württemberg, das einen hohen Blutzoll zu entrichten hatte. Etwa 479 000 schwäbische Soldaten waren im Ersten Weltkrieg an den verschiedensten Fronten im Einsatz, fast 81 000 von ihnen ließen ihr Leben; allein in den ersten Kriegsmonaten des Jahres 1914 waren 13 000 württembergische Soldaten gefallen.

Einer der ersten Esslinger Kriegstoten

Auch zuhause waren schon bald die Auswirkungen dieses ansatzweise „totalen Krieges“ zu spüren. Die ersten Todesnachrichten trafen in vielen Familien bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn ein. „Wurde am 8.9.14 durch eine Granate tödlich verwundet“: Behördenprosa über das jähe Ende eines jungen Mannes, dem wie so vielen seiner Generation das Leben noch die meisten Träume schuldig geblieben war. Der Holzfräser und Ulan Eugen Rössle war einer der ersten Kriegstoten, die Esslingen zu beklagen hatte. Die lapidare Notiz stammt aus einer sogenannten Kriegsstammrolle, also aus einem jener militärischen Personalverzeichnisse, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrt werden und dort rund 200 Regalmeter füllen. Es handelt sich um äußerlich eher schmucklose Dokumente, die uns über die biographischen Daten hinaus die militärischen Einsätze der württembergischen Soldaten nachvollziehen lassen. Im Fall von Eugen Rössle ergibt die Recherche in der Stammrolle, dass der junge Soldat in den wenigen Kriegswochen, die er miterlebte, an mehreren Gefechten in Nordostfrankreich teilgenommen hatte.

Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart bildet sozusagen das institutionelle Gedächtnis des Landes für unser Wissen über den Ersten Weltkrieg: ein reich gefüllter Quellenspeicher, aus dem eine Veröffentlichungsreihe dieser Zeitung schöpfen konnte. Im Rahmen einer Weltkriegsserie erschienen zwischen August 2014 und Mai 2015 insgesamt 15 Beiträge. Verfasst wurden sie allesamt von Wolfgang Mährle, einem ausgewiesenen Experten für dieses Thema; der promovierte Historiker betreut im Hauptstaatsarchiv die Überlieferung der früheren königlich-württembergischen Armee.

Die Publikationsreihe zeichnete sich im Unterschied zu vergleichbaren Veröffentlichungen dadurch aus, dass die ganze Bandbreite der erhaltenen archivischen Quellen präsentiert wurde, also neben Feldpostbriefen und Fotografien etwa auch Tagebücher, Gefechtsberichte, Frontkarten und eben Stammrollen.

Mährles Texte stießen auf eine überaus positive Resonanz. Es bot sich daher an, die Zeitungsartikel gesammelt in Buchform zu publizieren. Die leicht überarbeiteten Beiträge sind, durch zusätzliche Bilder nun noch reichhaltiger illustriert, unter dem unveränderten Titel „Württemberg im Ersten Weltkrieg - Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart“ in der edition winterwork erschienen. Damit liegt ein in leicht verständlicher Sprache geschriebenes, für den historisch interessierten Laien wie für den mit Archivstudien befassten Leser höchst nützliches Kompendium vor, das den Weltenbrand gleichsam unter dem regionalgeschichtlichen Brennglas denkbar nahe heranzoomt und dem sinnlosen massenhaften Sterben für Kaiser und Vaterland Namen und Gesichter zu geben vermag.

Zu den lange Zeit geglaubten Mythen des Ersten Weltkriegs gehört die Annahme einer überbordenden Kriegseuphorie in der deutschen Bevölkerung. Die neuere Forschung hat dieses monochrome Abziehbildchen revidiert. Schon am Vorabend des Krieges ergab sich ein atmosphärisch uneinheitliches Bild. Mährle lässt einen berühmten württembergischen Soldaten des Ersten Weltkriegs zu Wort kommen, der dann im zweiten globalen Konflikt als Generalfeldmarschall und „Wüstenfuchs“ zur Legende werden sollte: Erwin Rommel, wiewohl ein Repräsentant der kriegsbegeisterten Jugend von 1914, zeichnete in seinen Erinnerungen ein differenziertes Bild von der Stimmungslage am Vorabend des Krieges. „Überall ernste, verstörte Gesichter“ machte er in Ulm am letzten Julitag 1914 aus, an dem Kaiser Wilhelm II. den Kriegszustand über das Deutsche Reich verhängte.

Im letzten Beitrag des Bandes begegnen wir Rommel als jungem Offizier wieder. Gerade einmal 26 Jahre alt ist er, als er seine bemerkenswerten analytischen und rhetorischen Fähigkeiten in einem Vortrag vor hohen Offizieren in Stuttgart erfolgreich einzusetzen versteht. Illustriert wird die „Geburtsstunde eines Medienstars“ mit Beispielen von Rommels detailliert ausgearbeiteten Gefechtsberichten und Skizzen seiner Mission im Italienfeldzug von 1917.

Das Thema Inszenierung spielte auch beim damals noch relativ jungen Medium der Fotografie eine wichtige Rolle. Die Grenzen zwischen Dokumentation und Manipulation begannen dort zu verschwimmen, wo die Aufnahmen zum Mittel der Selbstdarstellung wurden. Durch die Motivauswahl konnte dem Krieg die Fratze des Hässlichen abgenommen werden. Eine im Hauptstaatsarchiv überlieferte Mappe mit Fotografien vom rumänischen Kriegsschauplatz zeigt die württembergischen Soldaten vor allem auf dem Vormarsch und im Feldlager und setzt darüber hinaus Land und Leute ins Bild.

Auch die Gemälde, die der Stuttgarter Soldat Eugen Nanz hinterlassen hat, sind häufig mit dem Weichzeichner gefertigte Postkartenidyllen. Auf der anderen Seite kommt in den Bildern ein subjektives Moment der Wahrnehmung des Kriegsalltags zum Ausdruck, das interessante Einblicke in die Soldatenpsyche erlaubt; religiöse Symbolik oder auch karikierende Elemente spiegeln emotionale Nähe oder intellektuelle Distanz des Beobachters und machen diese spezielle Kunst der Kriegsdokumentation zu einer nicht minder wertvollen historischen Quelle.

Eine Frau an der Italienfront

Die Kunst der Verstellung beherrschte eine junge Frau so perfekt, dass sie im Herbst 1917 bei der deutsch-österreichischen Offensive gegen Italien eine ganze Zeit lang unbemerkt als „Soldat“ im Württembergischen Gebirgsbataillon ihren Dienst versehen konnte - zunächst als Dolmetscher, dann als Meldegänger. Obwohl Maria Amalia Anna Hauler, die Tochter eines k. u. k.-Offiziers, schließlich durch eine vom Bataillonskommandeur angeordnete Fußkontrolle aufflog, wurde der sehnlichste Wunsch des Schützen Wolf Hauler - so das Pseudonym der 24-Jährigen - erfüllt; „er“ konnte zunächst weiter bei der Truppe bleiben, wurde dann aber bei einem Meldegang schwer verwundet. Eine Geschichte mit einem Happy End für May Senta, wie Hauler in ihrer Familie genannt wurde: Kurz vor Kriegsende erhielt sie die Silberne Militärverdienstmedaille verliehen.

Kurioses und Anrührendes im Angesicht des Schreckens gibt es in Mährles Band wiederholt zu entdecken. Da ist die tragikomische Geschichte eines jungen Mannes aus Esslingen-Berkheim, dessen militärische Karriere wenig ehrenhaft endete. August M. wollte, anders als „Wolf Hauler“, so schnell wie möglich von der Front wieder weg und fügte sich deshalb selbst eine Verletzung zu. Doch die Schusswunde im Arm war zu auffällig - der „Verwundete“ landete vor dem Kriegsgericht.

„Herzliebs Käferle“

Ob es die Liebste zuhause war, die den armen Tropf zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte? Wir wissen es nicht. In anderen Fällen ist die Liebe in den Zeiten des Großen Krieges anschaulich dokumentiert - wobei die erhaltenen Feldpostbriefe nicht anders als die Fotografien mit Vorsicht zu genießen sind, wie Mährle in seinem Beitrag über Paul Hub, einen aus Stetten im Remstal stammenden Kriegsfreiwilligen, darlegt. Dennoch wird auch zwischen den mitunter geschönten Zeilen des Verlobten, der davon schreibt, wie „brillant“ es ihm im Felde gehe, das emotionale Wechselbad erkennbar, das Maria Thumm, sein „Herzliebs Käferle“, zuhause erlebt haben muss. Die Korrespondenz Hubs ist nicht nur umfangreich - hunderte Briefe und Karten gingen von der Front nach Hause. Sie schildert bei allem demonstrativen Optimismus immer wieder den ungeschminkten Alltag: Stellungskrieg, Giftgaseinsatz, Luftangriffe, Trommelfeuer.

Die Briefe Paul Hubs haben auch international Beachtung gefunden. So avancierte der Stettener durch die Übersetzung der Korrespondenz im angelsächsischen Raum zu einer Art Ikone des kleinen Mannes in diesem „Großen Krieg“ - zum Inbegriff des „ordinary German soldier“. In dem Band ist auch ein Foto seiner Kriegstrauung abgedruckt: Paul Hub stolz in Uniform stramm geradeaus schauend; sie ganz in Weiß, der Blick leicht zur Seite in die Ferne schweifend. Eine Vorahnung? Wenige Wochen später besiegelte eine Granate an der französischen Front das grausame Ende dieses jungen Glücks: eines von vielen traurigen Schicksalen württembergischer Landeskinder, die dieses vorzüglich gestaltete Buch in einem hoch informativen und lehrreichen, oft beklemmenden und immer wieder berührenden Kaleidoskop menschlicher Erfahrungen in barbarischen Zeiten zusammenführt.

Der Band „Württemberg im Ersten Weltkrieg - Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart“ (134 Seiten, 41 Abbildungen, 9,90 Euro) ist im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bei Amazon und beim Verlag edition winterwork erhältlich (www.edition-buchshop.de).