Von Dietholf Zerweck

Ludwigsburg - „Passagen, Erzählungen“ lautet in diesem Jahr das Motto der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Für das Eröffnungskonzert im Forum hätte Intendant Thomas Wördehoff keinen besseren Festredner finden können als Ulrich Raulff, den Direktor des Marbacher Literaturarchivs. In einer wortmächtigen Tour d’Horizon reiste er in Gedanken von den Märchen der Brüder Grimm zurück zu den Mythen des Odysseus und Aeneas und nach vorn zu den Fluchten und Wanderschaften der Romanhelden von Melville und Joyce, Kafka und Frisch. Seine These: Gerade in der gegenwärtigen Situation sollte niemand die Augen verschließen vor der Tatsache, dass Flucht, Heimatlosigkeit und Verlorenheit seit jeher Realität und damit Stoff des Erzählens waren.

Phantastische Reisen bot auch das musikalische Programm. Das groß besetzte Festspielorchester ist in geheimnisvolles Dunkel getaucht, als der türkische Oud-Virtuose Yurdal Tokcan im weißen Scheinwerfer-Spot in die Saiten seiner Kurzhalslaute greift. Improvisatorisch nimmt er die Zuhörer mit zu orientalischen Gestaden, seine Komposition „Manolya“ ist eine zauberhafte Einstimmung auf Rimsky-Korsakows „Scheherazade“.

Auch Sergej Prokofjews drittes Klavierkonzert ist ein Beispiel für Flucht und Ankommen in der Fremde: konzipiert während der Oktoberrevolution, vollendet nach der Emigration in die USA, uraufgeführt 1921 in Chicago. Im Ludwigsburger Forum spielte der mazedonische Pianist Simon Trpčeski, den Solopart mit sprühender Laune und Energie: Nach dem Sfumato-Anfang mit Klarinetten wie aus der Ferne einer verschleierten Landschaft steigt der Solist mit einem stürmischen Staccato-Lauf ein. Daraus entwickelt sich eine brodelnde Großstadtatmosphäre, rhapsodisch der Mittelteil, rhythmisch pointiert der Schluss. Dirigent Pietari Inkinen forderte vom Orchester mit Hochdruck markante Kontraste.

In Rimsky-Korsakows „Scheherazade“ liefen Inkinen und das Orchester dann zu ganz großer Form auf. Seine Klangbilder aus „1001 Nacht“ hat der Komponist durch die Solovioline als Erzählerin verbunden. Konzertmeister Gustavo Surgik gibt Scheherazade, die einen grausamen König durch die Kunst der Poesie vom täglichen Ritualmord abhält, ein betörendes Porträt. Nach dem etwas verwackelten Holzbläsereinstieg segelt das Orchester klangmächtig mit Sindbad dem Seefahrer auf den Meereswogen davon, Inkinen lässt es bildhaft stürmen und rauschen, in der Geschichte vom Prinzen Kalender hat der Solo-Fagottist Michael Roser seinen bravourösen Auftritt. Manfred Lindners Klarinette windet sich im Rendezvous des jungen Prinzen mit der Prinzessin wie beim persischen Seiltrick in die Höhe, und das Fest in Bagdad ist ein veritables Fest der Holz- und Blechbläser: rhythmisch präzise und orgiastisch im Klang, bis das Meer die Party verschlingt. Jubel und Standing Ovations für Inkinen und das Festspielorchester.