Der Schriftsteller und das vergötterte Objekt der Begierde: Matthias Klink (Gustav von Aschenbach) und David Moore (Apollo). Foto: Oper Stuttgart Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Obwohl sie so viel von der Schönheit singt, obwohl sie mit der Liebe eines Mannes zu einem Knaben ein skandalöses Sujet behandelt, ist Benjamin Brittens letzte Oper ein sprödes Werk von oft fragmentierter Struktur. Zwischen farbenreichen Klangexplosionen dehnen sich lange, minimalistisch begleitete Strecken, deren philosophische Texte das genaue Hinhören erfordern. Librettistin Myfanwy Piper und der Komponist konzentrieren sich genau wie die Vorlage von Thomas Mann vollkommen auf eine einzige Person, den Dichter Gustav von Aschenbach, der im Prinzip drei Stunden auf der Bühne an sich zweifelt - nicht nur dafür wurde Tenor Matthias Klink am Ende der Aufführung in der Stuttgarter Oper mit Ovationen gefeiert.

Gezielt lässt Brittens Partitur Deutung und Bebilderung vieler Szenen weit offen. Genau das nützt Demis Volpi, derzeit noch Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, für eine hochmusikalische, detailverliebte, von vielerlei Symbolen durchzogene und vor allem spannende Inszenierung, in der nicht nur Mitglieder des Stuttgarter Balletts und Kinder der John-Cranko-Schule tanzen, sondern die Sänger, der grandiose Chor, ja im Grunde auch die Bühne.

Verknüpfungen und Spiegelungen

Katharina Schlipfs Drehbühne nimmt sanft Personen mit sich hinaus, lässt sie im Hintergrund vorbeiziehen, ist in einer ständigen, ruhigen Bewegung wie das Meer der Lagunenstadt. Auch die hohen, durchscheinenden Wände des Labyrinthes, als das die Stadt Venedig hier in aller Abstraktion vorbeikreiselt, schimmern im „unendlichen Grau“ des Meeres, wie es im Libretto heißt, Lichtdesigner Reinhard Traub taucht sie in ein blaugrünes Morgenfunkeln oder in das abendliche Gold des Gottes Apollo. Ob wir wirklich in Venedig sind, weiß keiner, denn eigentlich spielt fast alles, was wir auf der Bühne sehen, in Aschenbachs Kopf. Obwohl er scharfsinnig beobachtet und beschreibt, vor allem sich selbst, deutet die Inszenierung immer wieder an, dass Realität und Fantasie bis zum Wahn verschwimmen. Zum Schluss ist man nicht sicher, ob Aschenbach die Bücherburg überhaupt verlassen hat, in der er sich mit seiner Schreibblockade am Anfang vergräbt.

Denn im Lauf des Stückes verknüpft und spiegelt der Regisseur jene drei Figuren immer stärker untereinander, um die Aschenbachs Bewusstsein und Unterbewusstsein miteinander kämpfen: zuerst jenen polnischen Knaben Tadzio natürlich, in den er sich am Strand verliebt und den Volpi mit dem Ballettschüler Gabriel Figueredo brillant besetzt hat: unnahbar und eigenartig, groß wie ein Mann und schmal wie ein Junge, gewissermaßen ruhend in seiner Anbetungswürdigkeit. Dass der junge Tänzer Beine bis zum Himmel hat, macht ihn nur noch exzeptioneller. Ihn setzt Aschenbach gleich mit Apollo, der hier nicht nur, wie in der Partitur vorgesehen, eine schwebende Countertenorstimme von Jake Arditti bekommt, sondern auch den komplett vergoldeten Traumkörper des Ballettsolisten David Moore. Apollo erscheint dem Schriftsteller gleich bei der Ankunft in Venedig und dann in einer wirren Fantasie am Ende des ersten Aktes, als krude Mischung aus griechischem Gott und vielarmigem indischen Shiva, kredenzt auf einer riesigen Bollywood-Lotosblüte. Sein Tanz, obwohl gemischt aus Ballett, olympischen und indischen Posen, erstrahlt in strengster Klassizität, umschwärmt von dem nun vielstimmigen, optisch zu einem ganzen Chor vervielfachten Aschenbach.

Der erhabene Intellektuelle träumt in Gold und Pink, er gleitet in den Kitsch ab, verliert sich selbst, gerät zunehmend außer Fassung. Manipuliert - oder vielleicht zu sich selbst geführt? - wird er von einem ominösen Gegenspieler, der in vielerlei Verkleidung als Gondoliere, Hotelmanager oder Barbier auftritt. Georg Nigl wirft sich die passende Jacke über und tönt sich geschmeidig wie ein Chamäleon. Der Bariton tänzelt als Fitnesstrainer, flötet als Schausteller, er lungert in den Ecken und wirkt bei aller Bedrohlichkeit fast besorgt um sein Opfer. Ist er Dionysos oder der ältere Tadzio, bringt er Tod oder Erkenntnis?

Alles nur Erfindung?

Demis Volpi spiegelt die Figuren so raffiniert untereinander, bis sie alle zu einem Aspekt, einem Teil von Aschenbach werden, zu Figuren, die er in seinem Kopf gegeneinander ausspielt. Vielleicht hat der zuletzt mit „Salome“ nicht sehr erfolgreiche Choreograf mit dieser Bildsprache seine wahre Begabung gefunden, mit der theatralischen Bewegung: Chor und Sänger agieren völlig natürlich, niemand steht nur herum, Oper und Ballett sind nahtlos integriert und es entsteht tatsächlich eine Kommunikation zwischen den beiden Künsten.

Tadzios elegante Familie etwa gleitet fast schwerelos herein, in einem choreografierten Schreiten, Aschenbach stellt sie in Pose, arbeitet in seinem Kopf an ihrer Erscheinung, und stellt sich dann als Teil der Familie hinzu. Sind sie alle nur seine Erfindung? Gibt es auch die lebenden Toten nur in seinem Kopf, die als Anzeichen der todbringenden Cholera über die Bühne ziehen, die ominöse Erdbeerverkäuferin, eine ätherische Zombie-Colombina (Lauryna Bendziunaite)? Ihre roten Früchte werden zu Blut, als Tadzio an ihnen stirbt, der zweite Traum des Schriftstellers ist eine blutige Phantasmagorie über Dionysos. Auch hier agiert der Chor großartig, ebenso die Sänger und Tänzer in den vielen kleinen und kleinsten Solorollen, die Kinder von der Cranko-Schule.

Dirigent Kirill Karabits gelingt es auf geheimnisvolle Weise, die fragmentierten Farbkleckse von Blechbläser-Ausbrüchen, Schlagwerk-Orgien oder Debussy-Flimmern organisch zu verbinden, dieser Oper ohne großen Bogen dennoch Spannung zu verleihen. Er findet ein zartes Pathos in der kopflastigen Partitur, wenn Aschenbach hier irgendwann gebrochen am Boden liegt und unserem Blick entschwindet. Matthias Klink absolviert die Tour de force der Rolle mit müheloser Stimmkraft, ohne jegliche Einbußen - seine englische Diktion ist beispielhaft, vom lyrischen Piano über die rauhe Anklage bis zum Sprechgesang stehen ihm alle Nuancen zur Verfügung. Er tanzt mit Apollo und den Kindern, hüpft von Buch zu Buch, krümmt sich oder triumphiert. Der Sängerschauspieler dürfte die Rolle seines Lebens gefunden haben.

Langer Todeskuss

Am Schluss öffnet sich das Labyrinth auf eine leere Bühne: Aschenbachs Kopf ist klar. Der rothaarige Dionysos treibt die gefallene Apollo-Statue vor sich her, reibt ihr den Lack ab, demontiert und entzaubert den gegnerischen Gott vollkommen. Nicht Tadzio, sondern er, der Andere, gibt Aschenbach einen langen Todeskuss, zieht die Kapuze über den Kopf und verschwindet in der Anonymität. Der tote Dichter aber erhebt sich wieder und verneigt sich auf den letzten Ton der Oper vor uns, dem Publikum - vielleicht ist es Thomas Mann, der sich mit der Niederschrift von Aschenbachs Geschichte von all den Parallelexistenzen in seinem Kopf befreit hat?

Wieder am 11., 14., 18., 25. Mai, 5., 18. Juni, 7., 19. Juli

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