Natalia Ryabkova lässt sich nicht aus der Ruhe bringen - auch nicht, als die Zuhörer in der Stadtkirche aus Versehen zu früh klatschen. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Eine Schwierigkeit aller Orgelkonzerte ist es, dass das große Vorbild Johann Sebastian Bach kaum je übertroffen und selten erreicht wird - aber doch bei einem großen Teil der Orgelliteratur im Hintergrund steht. Wer dann noch wie Natalia Ryabkova am Wochenende in der Stadtkirche St. Dionys mit dem „großen“ Präludium und Fuge e-moll, Bach-Werke-Verzeichnis 548, beginnt, jener „überwältigenden Schöpfung“, die „den Gipfelpunkt des Bachschen Orgelschaffens markiert“, wie es im Internet zu Bachs Orgelwerk heißt, geht das Risiko ein, dass alles Weitere im Vergleich etwas blass wirkt. Von einem vollen E-Moll-Akkord ausgehend, gerät eine Melodielinie zunehmend in Bewegung, von einem Seitenthema zum nächsten zwischen polyphoner Mehrstimmigkeit und rhythmischer Parallelführung wechselnd, mit chromatischen Passagen und Modulationen eine bunte Klangwelt auffächernd.

Im Fugenthema laufen vom Grundton E zwei Stimmen alternierend in Halbtonschritten auseinander. Nachdem es in allen vier Stimmen angespielt und in vielfältigen Varianten durchgeführt ist, beginnt nach einem Pedalton allerdings etwas vollkommen Anderes. Aus den Akkordfolgen perlt plötzlich in Zweiunddreißigstelnoten kadenzartig eine solistische Melodiestimme hervor: Die Fuge wandelt sich zum Konzert, in dem das Fugenthema zwar immer wieder einmal anklingt, sogleich aber im doppelten Tempo solistisch umspielt wird. Bis unverhofft die Reprise die strenge Form wieder aufnimmt. Die ihrem barocken Gehäuse zum Trotz erst 1904 gebaute Walcker-Orgel der Stadtkirche - die zweitgrößte Württembergs - kam in ihrer klanglichen Fülle am Samstag voll zur Geltung.

Schlichtheit der Romantik

Die Musikgeschichte durchwandernd, schloss Ryabkova nun drei Werke an, die mit Bach nicht viel zu tun haben. Robert Schumanns zweiter Satz aus den „Sechs Studien in kanonischer Form“ ist, anders als der Titel vermuten lassen könnte, kein Kanon und auch nicht für die Orgel komponiert, sondern für den Pedalflügel, einen um Fußpedale ergänzten Konzertflügel. Sanft hingetupfte Akkorde lassen die Schlichtheit der Romantik anklingen, die nicht so ganz zum majestätischen Klang der Orgel zu passen scheint. Auch Pjotr Tschaikowskis fünfte Symphonie ist natürlich eigentlich kein Orgel-, sondern ein Orchesterwerk. Der vorgetragene zweite Satz, Andante cantabile, beginnt ebenfalls sanft und langsam, bevor das D-Dur-Thema als „Lichtstrahl“ erklingt, zu dem der Satz durch mancherlei Variationen immer wieder zurückkehrt. Etwas verwischt wird der Wechsel vom flüssigen Zwölfachtel- zum geraden Viervierteltakt, als die Organistin manchmal unverhofft leicht beschleunigt oder das Tempo drosselt.

Applaus vor dem Ende

1957, als der tschechische Komponist Petr Eben seine „Sonntagsmusik“ schrieb, war Kirchenmusik im kommunistischen Prag bestenfalls geduldet. Der erste Satz, „Fantasia I“, beruht auf dem gregorianischen Motiv „Ite, missa est“, allerdings sehr frei, dissonant und chromatisch bis hin zur Bitonalität, formal gebunden durch Wiederholungen, wie im Wechselgesang der Messe. Daraufhin ging Ryabkova zum dritten Satz über, dem besonders reizvollen „Moto ostinato“: ein prägnantes rhythmisches Motiv, das sich - nur der Rhythmus, nicht die Melodie - bis auf eine kurze Kadenz unablässig wiederholt. Dann aber gab es eine Panne: Offenbar hatte ein Teil des Publikums nicht genau ins Programm geschaut oder aufgrund der langen Pause zwischen den zwei Sätzen geglaubt, das Konzert sei bereits vorbei - obwohl gewiss noch kein Reger-Stück zu hören gewesen war. Um den aufkommenden Applaus zu übertönen, stimmte Ryabkova nun eilig das letzte Werk an, dessen klangvoller Anfang, wiederum in E-Moll, dadurch ein wenig unterging. Schade, denn es gibt wenige Komponisten, die wie Max Reger dem Orgelwerk Bachs etwas entgegenzusetzen haben. Regers hundertster Todestag in diesem Jahr war der Ausgangspunkt des Programms.

Reger schrieb seine drei Choralfantasien Opus 52 in nur zehn Tagen: weil ihm ein Kritiker „erfinderische Schwäche, Mangel an innerer Kraft und Persönlichkeit“ vorgeworfen hatte. Das wollte er widerlegen. Selbst Organist, „katholisch bis in die Fingerspitzen“, eiferte er Johann Sebastian Bach nach und griff barocke Formen wieder auf, aber abgewandelt durch eine erweiterte Tonalität in der Folge von Brahms, Liszt und Wagner. Die vorgetragene Fantasie verfährt nach dem ältesten Prinzip der mehrstimmigen abendländischen Musik: Sie nimmt einen Choral, „Hallelujah! Gott zu loben, bleibe meine Seelenfreud!“, als Grundlage, eingeleitet von pointierten Akkorden und rasanten Läufen. Auf der Basis des Chorals zieht der Komponist alle Register, wechselt von Triolen zu Sechzehnteln, von Moll zu Dur, von Fortissimo zu Pianissimo, bis das Werk schließlich in einer nach allen Regeln der Kunst auskomponierten Fuge mündet, gefolgt noch von einer Coda. Das nach eigener Aussage Regers sehr schwere Stück meisterte die junge Organistin mit großer Souveränität.