Von Angela Reinhardt

Stuttgart -Es ist ein Abend für die Tänzer: Hier werden sie nicht als abstrakte Maschinenmenschen gedehnt und verbogen wie in so vielen modernen Bewegungsstudien - nein, alle drei Choreografen der „Nachtstücke“ wollen im Stuttgarter Schauspielhaus statt mathematischer Winkel die Expressivität oder gar Schönheit einer Bewegung sehen. Sie zeigen Tänzer als Menschen, nicht als Körper. Den Titel des Abends freilich könnte man über drei Viertel aller Neukreationen schreiben - auch alle vier Werke des letzten Mehrteilers „Verführung“ schälten sich aus der Nacht heraus. Die modernen Tanzschöpfer lieben die Dunkelheit, eine der wenigen Ausnahmen war Uwe Scholz, der seine Tänzer stets im Licht erstrahlen ließ.

Die nächtliche Einsamkeit eines verlassenen Konzertsaals inspirierte Edward Clug zu seinem fünf Jahre alten Kammerspiel „Ssss…“, das hier bereits seine zweite Wiederaufnahme erfährt: ein Konversationsstück ohne Worte im ewigen Geschlechterkampf-Geiste Hans van Manens. Clugs Bewegungsästhetik aber ist nervöser und fragmentierter, wenn seine beherrschten Intellektuellen über die schwarz spiegelnde Tanzfläche gleiten, wenn sie sekundenlang um Fassung ringen oder ihnen in einem lakonisch hingenommenen Scheitern die Herrschaft über einen Arm, ein Bein entgleitet. Ein lahmes Flügelschlagen, ein Zurechtrücken des Partners, ein kurzes, höfliches Manipulieren: In ihren komplizierten Dialogen scheinen sie immer knapp aneinander vorbeizutanzen.

Kühle Sinnlichkeit

So sähe wohl ein Stück von Yasmina Reza als Ballett aus, elegant und gut situiert zu den Chopin-Nocturnes, aber in Missverständnissen zerfasert. Aus dem anfänglichen Solo macht Pablo von Sternenfels ein fast zu großes Drama, die kühle Sinnlichkeit seiner Kollegen Hyo-Jung Kang oder Adam Russell-Jones passt besser zum minimalistischen Stil des rumänischen Choreografen, der nach seinen Stuttgarter Werken inzwischen in ganz Europa eingeladen wird - noch eine Entdeckung von Ballettintendant Reid Anderson.

Die wenigsten Choreografen haben sofort in den ersten Werken ihren persönlichen Stil gefunden - genau wie ein William Forsythe oder ein Marco Goecke probiert sich auch der 25-jährige Münchner Louis Stiens aus. Sein letztes Werk im Schauspielhaus hatte eine Art Handlung und viel Kulisse, nun räumt er die Bühne komplett frei für ein im weitesten Sinne konzertantes Ballett. „Qi“, sprich „Tschi“, bedeutet Energie oder Atem, beides brauchen die acht Tänzer auch für das schnelle, in assoziativen Vignetten aneinandergereihte Ballett, das sich nicht an die Struktur der einzelnen Barockstücke von Komponist Johann Heinrich Schmelzer hält. In eleganter schwarzer Nachtwäsche, vor einer in dezenten Farben changierenden Rückwand sorgen vor allem die vielen Drehungen für eine wirbelnde, temporeiche Ästhetik. Als Leitmotiv zieht sich ein Bild durch, bei dem der Kopf zwischen den gespreizten Händen gehalten wird - es könnte eine Krone oder das Zeichen von Entsetzen sein.

Noch fällt der junge Choreograf zu oft in andere Stile, so blitzen die lakonischen Port de bras des eben gesehenen Edward Clug auf, die unpersönlichen Überdehnungen von Douglas Lee, die schlappe Komik eines Mauro Bigonzetti oder die krallenden Hände von Marco Goecke, dessen typischen großen Lichtkreis auch Stiens als Beleuchtung wählt. Aber in den besten Momenten heben die Schritte tatsächlich ab und tanzen auf der Musik dahin, so das schöne Solo von Elisa Badenes, in dem sie zögert und mit sich ringt.

Dezente Breakdance-Elemente

Die drei ausdrucksstarken Neulinge Alessandro Giaquinto, Matteo Miccini und Timoor Afshar verquickt der Choreograf in gespiegelten, ineinander greifenden Duos. Die wenigen Pointen allerdings wirken aufgesetzt: ein im Hintern eingestöpselter Kopfhörer, der Wechsel zu elektronischen Rhythmen am Schluss. Zwar greift Stiens im finalen Solo für Robert Robinson dezente Breakdance-Elemente auf, aber der Gegensatz zur Barockmusik ist einfach zu groß, um irgendeinen Sinn zu ergeben.

Zum Abschluss des Abends kommt dann so ein Altmeister daher und stempelt die beiden Vorgänger zum netten Versuch ab. In der Dichte der Assoziationen, in der Stringenz, mit der sich leitmotivische Strukturen kaum merkbar durchziehen, in diesen raffinierten, hochmusikalischen Wechseln zwischen Rasanz und Verzögerung schüttelt der eben 70 Jahre alt gewordene Jirí Kylián ein Exempel aus dem Ärmel, wie moderne Choreografie geht. Sein „Falling Angels“ für acht Frauen ist fast 30 Jahre alt, das grandiose Stück zeigt sie als Amazonen, Soldatinnen, Badeschönheiten, Gören und Engel, zwischen Eleganz und Gehorsam, Pflicht und Freiheitsdrang. Immer wieder brechen Einzelne in wilden Solos aus dem Kollektiv aus, die mädchenhafte Jessica Fyfe oder die mystische Ami Morita zum Beispiel. Die feste Burg aber bleibt die Gemeinschaft in ihrer willensstarken, hypnotischen Übereinstimmung.

Getanzt wird zu einem der frühen Meisterwerke der Minimal Music, Steve Reichs „Drumming“, dessen erster Teil im Schauspielhaus live mit hölzernen Stöcken auf vier Bongos getrommelt wird. Jürgen Spitschka vom Staatsorchester leitet die großartige Percussiongruppe durch die minimalen Phasenverschiebungen der einzelnen Rhythmen, die eine sich ständig verändernde, Trance-artige Rhythmuslandschaft ergeben. Zu einer tollen Lichtregie variiert Kylián seine Themen durch das gesamte Stück - das Zeitlupenlaufen etwa wird zur Seite oder in die Horizontale gekippt, die Wechsel von der Frontalansicht zum seitlichen Profil verändern immer wieder unsere Perspektive, unsere Sicht auf die „fallenden Engel“. Ob sie wie Kafka-Käfer am Boden strampeln oder sich schwangere Bäuche aus ihren Trikots imaginieren: Aus ihrer starken Gemeinschaft heraus gibt der Choreograf dem Frauenkollektiv seinen unabhängigen, wilden Geist. Stuttgart braucht mehr Kylián!

Weitere Aufführungen: 1., 2. und 25. April sowie 3. Mai.