„Ich bin ein Glückskind“, sagt Elke Twiesselmann (links), hier mit Monika Barth in Goethes „Faust I“ an der Esslinger Landesbühne. Foto: Daniela Aldinger Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen/Stuttgart -Der... der... wie heißt der doch gleich? Ein Gespräch mit Elke Twiesselmann gleicht einem fürs eigene Ego nicht sehr schmeichelhaften Rollenwechsel. Während man selbst im Dunkel der Gedächtnislücken stöbert, löst die Schauspielerin prompt das Erinnerungsrätsel - im Namedropping der Theaterszene so virtuos wie in den Textmassen ihrer Rollen. Am 31. Mai wird Elke Twiesselmann 90 Jahre alt. Wie alt soll die sein? Man glaubt es kaum. Nicht nur im Gespräch, wo immer wieder ihr jugendlicher Charme aufblitzt, auch auf dem Weg dorthin. An der Treppe kein tattriger Griff ans Geländer, locker federt sie über die Stufen: eine elegante Erscheinung, eine Grande Dame, aber ganz ohne Posen und Allüren. Einmal in der Woche fährt sie von ihrer Feuerbacher Wohnung ins Leuze in die Sauna - mit dem Fahrrad. „Ich mach’ auch sonst fast alles mit dem Rad“, sagt sie. Ein Phänomen? „Freundliche Gene“, meint die gebürtige Hamburgerin. Und: „Ich bin ein Glückskind.“

Scharfe Beobachterin

Aber ein bisschen hilft sie Glück und Genetik schon auf die Sprünge: mit Tai Chi. Regelmäßig praktiziert sie das Schattenboxen zusammen mit Musikern der Stuttgarter Oper, den Schatten der Senilität hat sie jedenfalls erfolgreich besiegt. Friedrich Schirmer führte das chinesische Bewegungstraining in Stuttgarter Theaterkreisen ein, als er Schauspielchef am Staatstheater war. Seither ist Elke Twiesselmann dem jetzigen Esslinger Landesbühnenintendanten nicht nur gymnastisch, sondern künstlerisch verbunden. Zusammen mit Monika Barth spielt sie in Esslingen eine Zwei-Schauspielerinnen-Version von Goethes „Faust I“, Rollen von Gretchen bis Mephisto, alt und jung, männlich, weiblich - und geschlechtslos als Geist. „Transgender und Transage“, sagt sie in bestens upgedatetem Jargon. Wer so spricht, kriegt alles mit. Und wirft den Blick der scharfen und scharfsinnigen Beobachterin auf die Welt und namentlich die Szene, die seit sieben Jahrzehnten ihr Leben ist.

Sie kennt die jüngsten Theatermoden, agiert und reagiert kritisch: „Wenn es keine Rollendarstellung und keine Geschichte mehr gibt, wenn ein Regisseur nur noch seine privaten Assoziationen zum Stoff ausstellt, dann ist das ein unerträglicher Hochmut gegenüber dem Publikum. Und wenn Schüler aus so einer Vorstellung rausgehen und sagen: ,Nie mehr gucke ich mir ein Stück von Shakespeare an’, dann ist das das Ende des Theaters.“ Trauert sie einer verklärten Vergangenheit nach? Von wegen. Zu oft hat sie es erlebt, dass „Schauspieler wie Planeten um irgendeinen gehypten Regiestar kreisen, und wenn der verschwindet, verschwinden sie auch. Aber in dieser absurden geistigen Atmosphäre haben sie geglaubt, es sei ganz toll, was da mit ihnen gemacht wird.“ Sie selbst ist nicht gekreist und nicht verschwunden. Und sie ist nicht zur verstockten Konservativen geworden, auch wenn sie künstlerische Fehlentwicklungen erkennt. Gern arbeitet sie mit dem Regisseur Calixto Bieito zusammen, der wahrlich nicht für antiquierte Ästhetik bekannt ist. Einen ähnlichen Draht wie zu Schirmer hat sie zu dem künftigen Stuttgarter Staatsschauspielintendanten Burkhard C. Kosminski, derzeit noch Schauspielchef in Mannheim. Sie gastiert dort, sie gastiert in Heidelberg, sie spielt an der Stuttgarter Oper die alte Papagena in der „Zauberflöte“ und und und. Für ihr eigenes Esslinger Projekt „Geschichten aus einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“ nach Märchen der Gebrüder Grimm und anderer Autoren - Premiere ist am 27. Mai - hat sie eine große Rolle in Mannheim ausgeschlagen.

Ab 70 am gefragtesten

Wie erklärt sich die Vielgefragte, dass sie „ab 70 die interessantesten Angebote“ bekam? „Wahrscheinlich haben die Intendanten keine Angst mehr vor alten Schauspielerinnen, wenn sie sie nicht mehr an ihre Mütter, sondern an ihre Großmütter erinnern.“ Pointiert gesagt, aber in ihrem Fall - siehe oben - nur bedingt richtig. Wer mit 90 Jahren 100 Prozent geben kann, braucht sich um Intendantenpsychen nicht zu scheren.

Dabei war das Glück dem „Glückskind“ nicht ungeteilt hold: Gewiss mit der „großen Bibliothek meiner Mutter“, einer literaturbegeisterten Hausfrau, deren Neigung die Tochter erbte. Doch vor dem Germanistikstudium, das sie alsbald für die Schauspielschule abbrach, schlug der Krieg zu. Ihr Bruder, der älteste von fünf Geschwistern, fiel, ebenso etliche ihrer Vettern. Sie selbst kam in kulturfernen Zeiten in die „Kinderlandverschickung“. Und nach Krieg und Studium war der Start schwer - mit 200 Mark Monatsgage beim ersten Festengagement im niederrheinischen Rheydt („das reichte nicht mal für ein tägliches Mittagessen“). Dann aber ging es Schlag auf Schlag: Braunschweig, Flensburg, Wiesbaden - „ich bin nirgends länger als zwei Jahre geblieben“. Erst Bochum, ihre erste Bühne der Top-Liga, hielt Elke Twiesselmann zwölf Jahre. Sie spielte die Winnie in Becketts „Glückliche Tage“, eine ihrer Lieblingsrollen, Schillers Maria Stuart und vieles mehr. Sie war „jugendliche Liebhaberin“ und „Charakterdarstellerin“ in jenen Rollenfächern, die Theatergeschichte sind. Sie selbst ist beides: Geschichte und Gegenwart.

Anfang der 70er-Jahre wurde sie in Stuttgart heimisch, war bei Alfred Kirchner am Staatsschauspiel engagiert, wagte schließlich den Schritt in die Freiberuflichkeit.

Ein bewegtes Theaterleben, in dem das sogenannte private Glück nicht vorgesehen ist. Aber Elke Twiesselmann bereut und vermisst nichts: ein paar kurze Bekanntschaften, eine etwas längere Fernbeziehung - „aber niemals hätte ich meinen Beruf für eine Ehe aufgegeben.“ Ein ungetrübter Blick zurück? „Ich habe das Talent, Unschönes erfolgreich zu verdrängen.“ Fürwahr - ein Glückskind.

Die nächste Vorstellung von Goethes „Faust I“ mit Elke Twiesselmann und Monika Barth findet am 7. Mai im Podium 1 des Esslinger Schauspielhauses statt. Beginn ist um 18 Uhr.

Elke Twiesselmanns Projekt „Geschichten aus einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“ nach Märchen der Gebrüder Grimm und anderer Autoren hat am 27. Mai, 20 Uhr, im Studio am Blarerplatz Premiere. Am 22. Juni folgt die nächste Vorstellung.