François Sarhans Musiktheaterstück „Philosophie im Boudoir“ konfrontiert das Publikum mit drei unterschiedlichen Geschichten und Perspektiven - die man leider nicht wechseln kann. Foto: Martin Sigmund Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - In der Neuen Musik ist heute alles möglich. Das rein reflexive, aufs Material bezogene Denken hat ausgedient. Man kann jedes Geräusch, jeden Klang verwenden: schräg, geräuschhaft oder „schön“, elektronisch verfremdet oder nicht, von der Koloratur bis zum menschlichen Bölken, vom zärtlichen Vibrato bis zum Instrumentenfolter-Schreien. Die Zeiten knallharter Avantgarde sind vorbei. Man darf sich sogar offen auf Frédéric Chopin beziehen, ohne dass man ausgebuht wird. So zum Beispiel am Samstagabend beim Festival Eclat im Stuttgarter Theaterhaus, in einem Konzert mit drei Uraufführungen: Da spielte das Gitarrenquartett Aleph „endlos die nacht“ von Marko Nikodijević, das um sich selbst kreisend Fragmente aus Chopins cis-Moll-Nocturne verarbeitet. Zarte, aber saftige Gitarrenromantik vereint sich mit verfremdender Live-Elektronik. Das klang wie der Soundtrack zu einem melancholischen Schwarz-Weiß-Einsamkeitsfilm in kahler Landschaft.

Zuvor hatten die vier Männer Gegenteiliges aus ihren Instrumenten herausgezupft und Knäckebrotklänge in wohlgeordnetes Chaos überführt, das der Komponist Germán Moreno Brull „In Arkaden“ nennt und als eine Abfolge mehrerer bogenartiger Konstruktionen beschreibt. Klingen tut’s aber wie ein kribbeliges Netz aus Plings und Zings, aus Akkorden und Saitensehnenzerren.

Rettung des Weltgebäudes

Die stilistische Beliebigkeit beschert Neue-Musik-Festivals eine sehr bunte, abwechslungsreiche Mischung. Vielleicht hat Eclat deshalb in den vergangenen Jahren immer mehr Zulauf gerade von jungen Leuten bekommen. Der große Saal des Theaterhauses war jedenfalls proppevoll an diesen Abend. Jubel gab es für „Spazio immergente II“ von Beat Furrer. Der vertont darin einen Text des römischen Philosophen Lukrez, der vom Weltgebäude spricht, das einstürzen würde, hielten es nicht universale Kräfte zusammen. Das SWR Vokalensemble in der Leitung Marcus Creeds war doppelchörig aufgestellt, um das Auseinanderdriften des Raumes und die dies verhindernde Spannung im blockhaften Gegeneinander klanglich darzustellen: teils solistisch besetzt, mal gesprochen, mal in kriechendem Zeitlupen-Glissando und sich verschiebenden Dreiklängen, mal zerhackt in Akkorde, mal vibrierend flächig - kontrapunktiert von brutal metallischen Kratzgeräuschen und Grummeln der Perkussionisten. Immer zäher zogen sich die 25 Minuten, wie so oft bei Furrer, aber dem Publikum gefiel’s.

Lustig-originell ging es dagegen in Ansgar Bestes „In den Steppen von Sápmi“ zu. Beste verarbeitet darin Joiks, Lieder des lappländischen Volks der Samen, die einen in unseren Ohren merkwürdigen, eintönig-gutturalen Gesangsstil pflegen. Das Vokalensemble als „präparierter Chor“ sang in die Membranophon-Tröten ihrer Blechdosen-Instrumente, denn schließlich imitieren die zugrundeliegenden Joiks Tierstimmen: Eisenten, Krähen, Nordfalken-Eulen, Rentierkühe, Wölfe und Bären. Ein kurioses Stimmfarbengemisch, das Ansgar Beste kunstvoll in-, gegen- und durcheinander arrangiert hat. Höhepunkt: das polyphone Finale mit seinen mikrotonalen Schiebungen nach oben, was unerhört euphorisch wirkte.

Nordeuropäisch ging es auch beim exzellenten Uusinta Ensemble aus Helsinki zu. In Sami Klemolas „Peak“ für Klaviertrio und Live-Elektronik erahnt man im Cellokreischen und in den ekstatisch gehämmerten Klavier-Salven Anleihen aus der Heavy-Metal-Musik. Im expressiven „Fluchtpunkt“ von Ville Raasakka für verstärktes Klavier hatte Pianist Emil Holmström, mit einem Schlegel bewaffnet, Perkussives mit romantischen Klängen zu mischen.

Blubbern mit Palestrina

In „Partendo“ von Oscar Bianchi ging es dann um Abschied und Verlassen. Kontratenor Daniel Gloger, heldisch hin- und hergeworfen zwischen hohem und tiefem Register, stand wie der Fels in der Brandung, umgeben von neun Instrumentalisten. Streicher, Bläser, Perkussion und Akkordeon schufen eine Klangkulisse aus schroff Klippigem, Wellen und Wogen, aus Plexiglasscheiben herausgebogenen Blubbergeräuschen - Anklänge an Palestrina und Purcell inbegriffen. Ohne Szene, doch sehr theatralisch

Scheinen die Dinge in Sachen Klangmöglichkeiten heute ausgeschöpft, so gilt dies noch lange nicht für die Konzertsituation und das Publikum. Perspektivenwechsel ist deshalb in diesem Jahr das Zauberwort für das Musiktheater bei Eclat. Den Anfang machte François Sarhan mit der Uraufführung seiner „Philosophie im Boudoir“. Die Idee: Die Zuschauer, in Gruppen um die Bühne positioniert, blicken aus drei unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen: Am Tisch in der Mitte des Raumes reden sechs Akteure in einer Fantasiesprache. Darüber hängt eine Skulptur, auf die Filme und Übertitel projiziert werden. Drei völlig verschiedene Libretti, drei Geschichten. Jedes Zuschauerdrittel erlebt etwas anders: die Welt der Global Players, den RAF-Prozess gegen Ulrike Meinhof und de Sades „Philosophie im Boudoir“, während sich die sechs Neuen Vocalsolisten in allerlei Nonsens-Aktionen ergehen, zu Grüßvirtuosen mutieren, sich Ohrfeigen geben, singen und lachen und salbadern. Eine gute Idee, die freilich dadurch sinnfrei wurde, dass man als Zuschauer während der 70-minütigen Aufführung nicht die Plätze wechseln konnte. Dazu hatte man dann in Manos Tsangaris’ „Eiland. Das aufgehobene Ich“ genügend Gelegenheit: herumzulaufen in der dämmerigen Szene, in der die Neuen Vocalsolisten und vier Kontrabassklarinetten kleine Aktions- und Klanginseln permanent auf-, ab- und wieder aufbauten. Die Zuschauer werden Teil der Performance, müssen sich ständig neu im Raum orientieren. Da steht man schon mal im Weg, wenn einer einen Holzkasten aufbauen will, auf den sich gleich die Sopranistin stellt, um zur Skulptur zu werden. Aber schon beginnt der Bariton wieder, Schottersteinchen in einen Eimer plumpsen zu lassen, mit einem chinesischen Papierschirm herumzumachen oder summend von sich Selfis zu knipsen, während das sonore Stimmengewirr der Kontrabassklarinettisten meditative Stimmung verbreitet und zwei der Vocalsolisten hinter die Bühne gehen, um dort die Wand anzusingen. Nun, ansonsten geht es für das Ensemble bei diesem Eclat-Festival eher stimmschonend zu.