Mit dem Autopiloten durch Textbestände: Auf der Leinwand Martin Wuttke (rechts), Christian Schneeweiß und Julischka Eichel. Foto: Conny Mirbach Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart/Kornwestheim - Ein renommierter Schauspieler, der in Quentin Tarantinos Film „Inglourious Basterds“ Adolf Hitler spielte, sitzt im Auto und sagt: „Es geht doch um die Frage, wie jede individuelle Psyche, jedes Individuum inmitten dieser Kräfte und innerhalb der großen Strömungen, die diese großen Narrative verhandeln, sich selbst versteht.“ Alles klar? Das Hitler-Schamhaarbärtchen ist inzwischen ergraut und menjoumäßig verlängert, mit Fliege, Fluppe und weißem Kragen könnte der Schauspieler auch irgendeinen Don Caputto darstellen, irgendeinen Mafiafilm-Patriarchen zwischen „Pate“ und „Ehre der Prizzis“. Die erinnerten oder imaginierten Filmbilder überschneiden sich, klar ist nur, dass Martin Wuttke in seiner aktuellen Rolle Sätze spricht, die weder Hitler noch ein Mafioso sprechen würden. Aber dafür sind wir ja auch bei René Pollesch und seiner bewährten Rollendekonstruktionsmethode. Als Theorieteilchenbeschleuniger legt der Meister Kritisches und Kryptisches, Erkenntliches und Entrücktes seinen Film- und Medienschatten als ratterndes Parlando in den Mund - frisch von den Marktplätzen marxistischen, neo-marxistischen, psychoanalytischen, strukturalistischen und poststrukturalistischen Denkens. Das klingt dann im Extremfall so, als würden Dieter Bohlen oder Daniela Katzenberger Adorno und Foucault nachplappern. Kein ganz neuer Witz, aber bei Pollesch zündet er nach wie vor.

Der Ton kommt aus dem Autoradio

Auch in seiner jüngsten Kreation „Stadion der Weltjugend“, vom Stuttgarter Staatsschauspiel im Autokino Kornwestheim uraufgeführt, wie immer in Polleschs eigener Regie und im Bühnenbild von Barbara Steiner. Wobei das mit dem Bühnenbild naturgemäß äußerst relativ zu verstehen ist: Gespielt wird überwiegend im Inneren einer Limousine, das Theater im Auto wird live auf die riesige Autokino-Leinwand übertragen. Davor parken die Zuschauer mit ihren Karossen, der Ton wird über eine UKW-Frequenz ins Autoradio übertragen (wer kein Autoradio hat, kann ein Kofferradio ausleihen, wer kein Auto hat, kriegt einen Plastikstuhl).

Das mythische Ort Autokino verspricht freilich mehr, als „Stadion der Weltjugend“ halten kann. Dass die Schauspielintendanz auf der Suche nach einer Außenspielstätte - im Schauspielhaus muss mal wieder die Technik nachsaniert werden - auf die Kornwestheimer Institution stieß, ist zwar originell. Doch Pollesch flicht den Genius Loci zwar vielfältig in seinen Text ein, aber nur begrenzt in die Sinnlichkeit seiner Inszenierung, deren ritualisierte Theatermoden - siehe Live-Übertragung - überall vorgeführt werden könnten. Ein paar Gänge über den Parkplatz, mal einem Blaulicht hinterher jagend, ein kurzer Kameraschwenk in einen neben dem Spielmobil geparkten Camper mit litauischen Kennzeichen und Wanderhuren-Emblem an der Karosserie - das war‘s an raumgreifendem, raumreflektierendem Spiel. Zumindest beinahe: In der stärksten Außenszene wird eine riesige, aufblasbare, weibliche Sexpuppe betatscht und bestiegen, aufgerichtet und umgekippt - ein Zitat aus Bert Neumanns Bühnenbild von 2012 für Schönbergs „Die glückliche Hand“ an der Stuttgarter Oper, eine Hommage an den vor einem Jahr gestorbenen großen Bühnenkünstler.

Und ein Sinnbild für die Pollesch-Mixtur aus Backstage-Palaver, Insider-Bezüglichkeiten und Theorie des Begehrens. Also drehen wortreiche Cross-Gender-Suaden ihre Loops durch allerlei Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten der Liebe, werden kurzgeschlossen mit theaterästhetischen Befunden im Gewand netter Absurditäten: Er sei „einer der besten Frauendarsteller des 17. Jahrhunderts“ gewesen, heißt es wahlweise über Wuttke und seine männlichen Kollegen Manuel Harder und Christian Schneeweiß, denen es vorm „Terror der Natürlichkeit“ graust. Derweil Julischka Eichel „gut einen Mann spielen“ könnte, denn „wenn ich keine Frau spiele, bin ich eh ein Mann“.

„Lebender Anschlussfehler“

Und während so geschlechtliche Identitäten und Nicht-Identitäten durch den Textwolf gedreht werden, Sprechakte ihre Sprecher wie ihre Adressaten wechseln, mischt der wirklich eindrucksvolle Martin Wuttke so etwas wie die Geschichte eines alternden Schauspielers ins wirbelnde Spiel der sinnvernichtend aufgeschäumten Bedeutungspolyphonie. Frauen darf er nicht mehr spielen, nicht mal Monster à la Boris Karloff kriegt er noch hin, er ist ein „lebender Anschlussfehler“, der vergessen hat, der „Kontinuität zum Geburtstag zu gratulieren“.

Ein Pollesch-Witz: die personifizierte und beleidigte Kontinuität. Pollesch ist der Rächer der von der Kontinuität Enterbten, mit seinen in wechselnden Gala-Fummel (Kostüme: Nina von Mechow) gesteckten, die Sitze im Auto wechselnden Darstellern, dem Film-Abhub vom Krimi-Intro mit rasanter Fahrt durch die Straßen von San Francisco vor simulierter Kulisse bis zum Blick in den waffengefüllten Kofferraum, den montierten Theorie-Splittern im Text. Nichts Diskontinuierliches ist dem fremd, wie immer. Dennoch hat dieser Pollesch-Abend eine Gravitation, die ihn in Worten zumindest am Ort des Geschehens erdet: dem Autokino, einer „Heterotopie“. Einer was? Tja, da wird im Mund von Darstellerin Abak Safaei-Rad schwerstes Theorie-Geschütz aufgefahren. Foucaults Begriff meint Räume an der Grenze gesellschaftlicher Normen, Räume eigener Zeitordnung, abgeschlossen und doch offen für Regelverstöße: Psychiatrien und Gefängnisse etwa, aber auch Theater oder Kinos. Diese Orte sind nicht nur Orte und bleiben doch Orte. Ein Kino etwa ist zugleich ein „Fenster“ in eine andere Welt. Und ein Autokino? Eine Stätte der „Defloration“ (sagt Pollesch), der jugendlichen Kamasutra-Gymnastik auf beengten Autositzen. Als „Stadion der Weltjugend“ in diesem Sinne hätte es dank der sexuellen Liberalisierung ausgedient wie die gleichnamige, 1992 abgerissene DDR-Arena in Ost-Berlin. Und in der Tat gibt es nur noch wenige Autokinos.

Also ein Requiem für eine verschwindende „Heterotopie“? Das bedeutete viel um etliche Ecken denkende Ehre für den vielleicht nur aufreißerischen Titel der neuen Pollesch-Laufmasche, die über weite Strecken eben auch wie mit dem Autopiloten durch ihre Textbestände kurvt. Im Stück verlieren die männlichen Darsteller allmählich ihre Klebe-Bärtchen. Der Bart der Pollesch-Methode aber wird länger, auch wenn manche Witze nicht kaputt zu kriegen sind. Dafür gab‘s bei der Premiere ein EM-taugliches Hupkonzert als Applaus.

Weitere Vorstellungen: 7. bis 9., 14. bis 16. und 21. bis 23. Juli.