Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Im Mittelpunkt des Eröffnungskonzerts des Eclat-Festivals für Neue Musik im Stuttgarter Theaterhaus stand Michael Pelzels „Sempiternal Lock-in“: Für dieses Werk wurde der Schweizer Komponist mit dem Kompositionspreis der Stadt Stuttgart ausgezeichnet.Zum 60. Mal wurde diese Auszeichnung verliehen, womit der Stuttgarter Preis zu den ältesten für Werke zeitgenössischer Musik zählt.

Der Titel von Pelzels Ensemblestück bezieht sich auf seine Entdeckung afrikanischer Rhythmen mit ihrem Ursprung in Uganda, die er bei Studien am South African College of Music in Capetown kennenlernte. Beim „Lock-in“ spielen mehrere Schlagzeuger in verschiedenen Metren und Tempi zusammen auf Marimba-ähnlichen Akadindas und Amadindas, wobei sich durch die Verzahnung der einzelnen Rhythmen und Patterns eine obertonreiche, surreale Hörerfahrung ergibt.Michael Pelzel wendet diese Interlocking-Technik nun auf einen traditionellen Klangapparat mit Streichern, Bläsern und Perkussionsinstrumenten an, woraus fluktuierende Prozesse von Transparenz und Verdichtung entstehen.

Im „Sempiternal Lock-in“ braucht es viele Anläufe, bis sich die einzelnen Bausteine zu einem vielschichtigen Pattern organisieren und verdichten. Mit konsonanten Akkorden einer Soloharfe als Knotenpunkten kommt es nach einer Generalpause in der Mitte der Komposition zu explosivem Aufbäumen und ekstatischen Steigerungen, deren sogartige Überlagerungen zwischendurch in einer Art „Klangasche“ verglühen. Dem im Titel anvisierten „immerwährenden“ Ineinandergreifen wird die Komposition, die vom Klangforum Wien exzellent dargeboten wurde, nicht ganz gerecht, mit seiner halbstündigen Dauer wirkte es phasenweise langatmig und redundant.

Minimal-Music-Struktur

Georg Friedrich Haas‘ 2013 entstandenes 14-Minuten-Stück „Anachronism“ hatte dagegen in seiner ausgepichten Minimal-Music-Struktur für Musiker und Zuhörer genau die richtige Zeitdauer. Wie im Titel angedeutet, stemmt sich das Werk gegen die Vorstellung von Musik im Kontinuum von Zeit: ausgedünnt und eingedickt, gespreizt und in mikrotonal geballtem Unisono, terrassenförmig auf- und absteigend, in schrillen Trillern und wummernden Pattern sind die minimalen Veränderungen bis zur erlösenden Schluss-Fermate kaum wahrnehmbar - und doch erzeugt die monotone 11/8-Bewegung in ihrer unaufhörlich und atemlos durchgepowerten Präsenz eine reizvolle Faszination, vor allem wenn das Stück so exakt und expressiv ausgeführt wird wie vom Klangforum Wien.

Nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist wurde Enno Poppe im Eröffnungskonzert vom zahlreichen Publikum im Theaterhaus gefeiert. „Koffer“ nennt er sein 2012 aus fünf Stücken seiner Oper „IQ“ weiterentwickeltes Stück, das mit der musiktheatralischen Befragung von IQ-Tests nur noch wenig zu tun hat. Poppes „Koffer“ öffnet sich mit einem wie vom „Rheingold“ inspirierten, abgründigen Intervall von Kontrabassfagott, Posaune und Wagnertuba, dann beginnen die Orchesterstimmen munter und heftig zu parlieren, die rhythmischen und dynamischen Steigerungen sind bravourös mit theatralischem Gestus aufgeladen.

Etwa in der Mitte der halbstündigen Komposition folgt ein comicartig parodistisches Keyboard-Intermezzo, darauf folgen jazzige Momente mit Zupfbass, Saxophon-Solo, Big-Band-Chorussen, bis am Ende Gustav Mahler aus dem imaginären Koffer der musikalischen Reminiszenzen erscheint: Bläser-Seufzer, ein Vergehen in Terzen, ein Streichquartett-Schluss wie ein von fern tönendes Echo. Dennoch wirkt dieses Werk des 46-jährigen Enno Poppe nirgends epigonal; es ist vielmehr eindrucksvolle, virtuos komponierte, klanggewordene Erinnerung.