Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart - Bismarck und Europa in der Südsee: Es klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte. Vor der Küste des Bismarck-Archipels lagert ein chemisches Element namens Europium, das zu den Metallen der seltenen Erden gehört. In geringer Konzentration ist es in Mineralien enthalten, die heute in Kalifornien und in der Inneren Mongolei abgebaut werden. Doch die Vorräte reichen nicht aus, denn die ganze Welt giert danach: Europium ist der Stoff, der die Bildschirme von Computern, Fernsehgeräten und Smartphones zum Leuchten bringt. Das kanadische Unternehmen Nautilus Minerals will daher nun den Meeresboden im Pazifischen Ozean umpflügen: ein nächster Schritt auf dem Weg der Ausbeutung globaler Ressourcen, der an diesem Ort mit der Neuguinea-Kompanie und dem deutschen „Schutzgebiet“ auf der Inselgruppe beginnt, die bis heute den Namen des Reichskanzlers trägt.

Lisa Rave hat darüber einen Film gedreht, der mit ethnografischen Aufnahmen aus der deutschen Kolonialzeit beginnt. Für die Ureinwohner war alles in der Natur heilig: daher der Begriff Tabu. In der kapitalistischen Weltordnung gibt es kein Tabu: In der Animation, die der Techniker von Nautilus Minerals im Film vorführt, sieht man nicht, dass nicht nur Gestein abgebaut, sondern die Untersee-Fauna flächendeckend von den Maschinen zermalmt werden wird. Das seltene Material Europium dient ironischerweise auch dazu, Euro-Geldscheine fälschungssicher zu machen. In einem Frankfurter Bunker treffen sich diejenigen, die mit Europium Geschäfte machen - vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen.

Auf der anderen Seite der Welt

Ganz weit weg auf der anderen Seite der Welt wird die Umweltzerstörung stattfinden, tief unter der Meeresoberfläche. Man müsste schon ein Loch ins Meer bohren, um zusehen zu können. „Ein Loch im Meer“: So heißt die neue Ausstellung des Württembergischen Kunstvereins nach dem Beitrag Barry Flanagans zur Fernsehgalerie Gerry Schums. In zwei Ausstrahlungen hatte Schum 1969 eigens für das Medium Fernsehen angefertigte Arbeiten von Künstlern gezeigt. Die zweite Folge unter dem Titel „Land Art“ gab dieser Kunstrichtung ihren Namen. Flanagan hatte eine Acrylglasröhre ins Wattenmeer gestellt und von oben aufgenommen, sodass es aussah wie ein Loch im Meer.

Die Ausstellung versammelt Arbeiten, die sich auf dieses paradoxe Bild beziehen: auf das Meer wie Rave oder auf ein Loch, eine Leerstelle, eine Rundform. Oder auf den Gegensatz zwischen exakter geometrischer Konstruktion und grenzenlos offener Bewegtheit. Zbynék Baladrán zeichnet eine offene, prinzipiell unbegrenzte Folge von Weltmodellen. Cristian Rusu setzt im Architekturmodell die Erhabenheit der Bergwelt im romantischen Sinne mit der Monumentalität einer totalitären Ästhetik in eins. Pia Linz hat in vierjähriger Arbeit höchst subjektiv, nämlich von ihrem eigenen Blickpunkt ausgehend, mit spitzem Bleistift die Schillerpromenade in Berlin-Neukölln kartografiert.

Ein sehr sehenswerter, fotografischer Schwarzweiß-Film des Bauhausmeisters Laszlo Moholy-Nagy über den alten Hafen von Marseille beginnt damit, dass eine Hand das Areal, das anschließend gezeigt wird, aus dem Stadtplan ausschneidet. Der den Surrealisten nahestehende Meeresbiologe Jean Painlevé hat Unterwasseraufnahmen mit Musik von Chopin bis Louis Armstrong unterlegt. Matthew Buckingham erzählt zu Filmaufnahmen eines Hubschrauberflugs die Geschichte des Hudson River. Sven Johne hatte eigentlich die Monotonie der Arbeit auf einem Containerschiff dokumentieren wollen, die sich freilich im Bild kaum darstellen ließ. Stattdessen zeigt er auf großformatigen, beschrifteten Fotos Stellen, an denen sich Schiffsunglücke ereigneten - was dem Meer natürlich nicht anzusehen ist.

Entlang der Mittelachse des Vierecksaals sind minimalistische Arbeiten versammelt, die sich um einen schlichten Stein oder um die Sonne drehen. Der Fluxuskünstler George Brecht hat in einen ovalen Kiesel in römischen Lettern das Wort „Void“ (Leere) eingraviert. Zoe Leonards hat versucht, die Sonne zu fotografieren. Das grüne Leuchten, nach dem Tacita Dean in einem Sonnenuntergang sucht, lässt sich - wenn überhaupt - nur auf Zelluloid festhalten. In digitalen Pixeln würde es verschwinden.

Im rechten Drittel des Ausstellungsraums geht es um die geopolitischen Implikationen des maritimen Welthandels, die Eroberungen, die Globalisierung. Chen Chieh-jen hat im Jahr 2006 im taiwanesischen Kaohsiung mit Hafenarbeitern einen Streik inszeniert, der zehn Jahre zuvor genau dort nicht stattgefunden hat. Von Liverpool ausgehend, war es weltweit zu Ausständen gegen die Privatisierung gekommen. Die Hafenarbeiter von Kaohsiung wurden, weil sie davon nichts wussten, unbeabsichtigt zu Streikbrechern.

Zynische Begriffsanleihe

In verfremdeten historischen Aufnahmen aus dem Netz widmet sich die saudi-arabische, in Pakistan lebende Künstlerin Mehreen Murtaza, wie der Titel ihrer Arbeit besagt, der „fragwürdigen Geburt der Geografie“. Es lohnt, sich die kleinen Schwarzweiß-Bilder unter anderem von Jaffa, der Sinai-Halbinsel oder dem Suezkanal genau anzusehen, denn es geht nicht um eine neutrale, wissenschaftliche Vermessung der Welt, sondern um das Zustandekommen der gegenwärtigen Weltordnung. In drei riesigen allegorischen Figuren aus schwarzen Perlschnüren bringt Hew Locke die Geschichte der europäischen Expansion mit dem heutigen Welthandel in Verbindung.

Annalisa Cannito entlarvt in mehreren aufeinander bezogenen Arbeiten den Zynismus, der sich hinter der Bezeichnung „Mare Nostrum“ für die italienische Operation zur Rettung Schiffbrüchiger von Oktober 2013 bis Oktober 2014 verbirgt. Unter der römischen Bezeichnung - zu Deutsch „Unser Meer“ - reklamierten schon die Faschisten das Mittelmeer für sich. Cannito spürt diesen Verbindungen nach. Nach dem Ende der Operation wurde freilich alles noch schlimmer. Die 23 000 Toten, die seit 2000 im Mittelmeer ertranken, sind keineswegs in einem Loch im Meer verschwunden.

Die Ausstellung läuft bis zum 21. August und ist dienstags bis sonntags von 11 Uhr bis 18 Uhr, mittwochs von 11 Uhr bis 20 Uhr geöffnet.

www.wkv-stuttgart.de