Quelle: Unbekannt

„Wenn ich andere ausgrenze, kann ich mich selbst nicht mehr weiterentwickeln.“ Ein rein technisches Verständnis des Körpers kollidiert mit dem Begriff des „beseelten Leibes“. „Streng genommen macht uns bereits unsere enge Bindung an unsere Smartphones zu Cyborgs“.

Von Sandra P. Thurner

Vollkommen ist nur die Liebe zur Unvollkommenheit. Dieser Aphorismus deutet bereits an, dass es zwischen der Wahrnehmung von Unvollkommenheit und Vollkommenheit eine Brücke gibt, die da lautet: Liebe und Akzeptanz. Ob die zahlreichen „außergewöhnlichen Models“, die in letzter Zeit auf den Laufstegen der Fashion Week und anderer Schauen präsent sind, auch über diese Brücke gehen oder ob lediglich ein Showelement diesen Trend mitträgt, scheint unklar. Entscheidend ist letztlich, wie wohl sich die Models mit Handicap dabei fühlen. Und Mario Galla fühlt sich offensichtlich wohl. Dem deutschen Model fehlt von Geburt ein Teil des Oberschenkels, und er trägt deshalb eine Beinprothese. Er möge seinen Körper und habe nie Probleme gehabt, in der Öffentlichkeit zu stehen. „Ich bin Mario, der modelt und zufällig ein Handicap hat“, sagte Galla in einem Spiegel-Dossier.

Auch das Albino-Model Shaun Ross ist mit seiner Unvollkommenheit glücklich und definiert - in demselben Dossier - Schönheit auf eigene Weise: Schönheit bedeute für ihn, sich in der eige- nen Haut wohlzufühlen und das auch auszustrahlen. Somit sei jeder perfekt, so Ross. Durch eine solche veränderte Definition wird die reflexive Metaebene zum entscheidenden Kriterium für Schönheit und nicht die scheinbar objektive Norm, was zu einer kollektiven, gesellschaftlichen Reifung beitragen könnte. „Wenn ich andere ausgrenze, kann ich mich selbst nicht mehr weiterentwickeln“, so lautet ein Zitat von Patsy Hall auf der Internetseite der gleichnamigen Foundation für Inklusion. Auch Chantelle Brown-Young, die an einer Krankheit leidet, die ihre dunkle Haut mit pigmentarmen, weißen Flecken übersät, ist ein Beweis, dass Anderssein schön ist.

Perfektes Aussehen stellt auch die Moderatorin und Schauspielerin Palina Rojinski in Frage: „Makel können wunderschön sein, jede Narbe hat eine Geschichte.“ In Fachkreisen spricht man in diesem Zusammenhang auch gern von Diversität im Sinne von Vielfalt - allerdings abseits von „Jahrmarkt-Freakshow-Effekten“, wie sie um 1900 zelebriert wurden. Die Mode-Branche setzt hier letztendlich und generell nicht nur modisch Trends, sondern zeigt gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten auf. Die markanten Models laufen auf den Laufstegen der Welt dem Zeitgeist sozusagen einige Schritte voraus - und das ist schön so.

Auch Raul Aguayo-Krauthausen, Berliner Aktivist für Inklusion und Moderator der Talkshow „Krauthausen - Face to Face (Sport 1)“ findet, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr aus der Gesellschaft - und daher auch nicht aus dem Bereich der Mode - herausgehalten werden sollten. Er fordert, analog zur Frauenquote, eine Quote für Menschen mit Behinderung von zehn Prozent; in Schulen, Unternehmen und Behörden. Aguayo-Krauthausen, der selbst auf den Rollstuhl angewiesen ist, sagt: „Wir sind 10 Prozent der Gesellschaft, dann sollten wir auch 10 Prozent der Berufe abdecken können.“ Die gegenseitige Wahrnehmung hänge stark ab von den Möglichkeiten der Begegnung. Man müsse sich kennenlernen, „das Unbekannte wird häufig abgelehnt“. Da bedürfe es manchmal schon eines zweiten oder dritten Blickes. Außerdem sei Schönheit kulturell definiert. Was in den westlichen Gesellschaften, die stark naturwissenschaftlich geprägt seien, als Abweichung vom Normalzustand verstanden werde, sei in anderen Kulturen ein Wunder. Seine zentrale und grundlegende Kritik an der Thematik lautet: „Warum müssen Makel überhaupt ästhetisch sein?“

Dass Makel ästhetisch sein können, beweist hingegen auch der Tanzlehrer Sascha Wolf, der eine eigene Tanzschule in Bad Cannstatt betreibt. Er hat ein Musical realisiert, in dem Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam tanzten und sangen - das Ganze wurde initiiert und unterstützt von der Patsy & Michael Hull Foundation , die sich für „gelebte Inklusion durch Tanz und Bewegung“ einsetzt. Der Mitbegründer der Foundation Michael Hull formuliert den Grundgedanken von Inklusion mit den Worten des Philosophen Gotthold Ephraim Lessing: „Wir sind alle Blätter an einem Baum, keins dem anderen ähnlich (...) und doch alle gleich wichtig dem Ganzen.“

Und solch ein Ganzes war schließlich auch die Aufführung des Tanzprojektes der Tanzschule Wolf im September letzten Jahres - in der Liederhalle Stuttgart. Das bundesweit wohl größte Inklusions-Projekt im Bereich Kultur wurde in ähnlicher Weise an 30 Tanzschulen umgesetzt. Wolf bewertet die gemachten Erfahrungen durchweg positiv: „Ich habe jetzt keine Berührungsängste mehr und keine Sorge, dass ich etwas falsch mache.“ Er unterrichte derzeit in seiner Tanzschule auch inklusive Tanzpaare in den Standardtänzen. Aber auch die Mitwirkung an einem weiteren Projekt wie dem Musical schließt Wolf nicht aus - im Gegenteil. An dieser Stelle sei unbedingt der Tanzfilm „Phoenix Dance“ über den amerikanischen Tänzer Homer Avila , der infolge einer Krebserkrankung ein Bein verlor und 2004 dann leider verstorben ist, erwähnt. Dieser Film zeigt, ästhetisch auf höchstem Niveau, wie der Bewegungskünstler im wahrsten Sinne des Wortes „mit seinem Schicksal tanzt“.

Das wohl größte bundesweite Inklusionsprojekt ist die Inklusion in der Schule. Jutta Dinkelaker, Sonderschulpädagogin in der Wendlinger Gemeinschaftsschule und Vorsitzende der Kreisfachgruppe sonderpädagogischer Berufe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), berichtet von ihren Erfahrungen mit der Inklusion: „Irgendwann spielt nur noch die Person des Mitschülers eine Rolle, die Etikettierung oder der 'Makel' rückt in den Hintergrund.“ Vor allem kleinere Kinder nähmen den Unterschied zu einer sogenannten Norm nur wenig war und hätten geringere Berührungsängste. Inklusion gewinnt im frühen Alter offenbar an Selbstverständlichkeit.

Das ehemalige Konzept der Sonderschulen hat dem menschlichen Dasein von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft beinahe ein wenig die alltägliche Natürlichkeit und Unbekümmertheit genommen, die Erwachsene sich bei den Kindern durchaus abschauen können. Das kann auch die Sonderpädagogin unterstreichen. In den gemeinsamen Begegnungen liege sehr viel Lernpotenzial. „Die Kinder mit Behinderung sind auch nicht immer Engel“, erzählt Dinkelaker schmunzelnd. Häufig entstünden im Unterrichtsgeschehen und in den Pausen Situationen, in welchen auch der coolste Mitschüler mit seinen Lösungsmechanismen für Konflikte nicht mehr weiterkomme. Auch im Sportunterricht käme viel Kreativität zum Einsatz, um die Leistungsunterschiede auf unaufgeregte Weise auszugleichen. Insgesamt plädiert die Lehrerin für eine Inklusion mit Rahmenbedingungen, die an einigen Stellen unbedingt noch zu verbessern sind - hier sei man auf einem, für die meisten Schüler und die Gesellschaft sinnvollen Weg.

Die 39-jährige Heike Traub, erste Vorsitzende des Werkstattrates der gemeinnützigen GmbH „Werkstätten Esslingen-Kirchheim“, hält vermehrte Inklusionsbemühungen und eine im Alltag verankerte Gleichberechtigung für unbedingt notwendig. Im Jahre 2000 wurde zwar ein sogenannter Gleichbehandlungsgrundsatz auf europäischer Ebene verabschiedet, dieser scheitere allerdings häufig in der Realität an kleinen Dingen. Die „normalen Leute“ hätten bisher massive Berührungsängste: „Manche sehen mich an, als wäre ich von einem anderen Stern“, erzählt Traub von ihrem Arbeitseinsatz im Plochinger Lebensmittelmarkt „Um‘s Eck“. Die Wendlingerin, die aufgrund einer Spastik häufig auf den Rollstuhl oder den Rollator angewiesen ist, fügt hinzu: „Fehler werden gleich verallgemeinert, im Sinne von: „Man könne gar nichts“.“ Das bestätigte auch die 33-jährige Christine Eichner, die an Epilepsie leidet: „Die Menschen glauben, man könne mit Epilepsie nicht klar denken.“ Das finde sie schon verletzend, aber es gebe ja auch Menschen ohne Berührungsängste. Seit sie mit einer Vagusnervstimulation (Neurocybernetic Prosthesis, kurz NCP) ausgestattet sei, habe sich die Häufigkeit der Anfälle deutlich vermindert.

Intelligente Prothetik und Implantate gehören heute schon zum Alltag vieler Menschen. Dank der sogenannten Cochlea-Implantate können taube Menschen beispielsweise wieder hören. Sind Menschen mit zwei solchen, die Hörnerven verbindenden Prothesen oder Menschen mit kybernetischen Armprothesen, die sich durch Gedanken steuern lassen, bereits als Cyborgs zu bezeichnen? Laut Wikipedia ist ein Cyborg ein Mischwesen aus Organismus und Maschine. Allerdings gibt es noch keine abschließende Definition darüber, wann ein Mensch als Cyborg bezeichnet werden kann.

„Streng genommen macht uns bereits unsere enge Bindung an unsere Smartphones zu Cyborgs“, so Christopher Coenen, Projektleiter des Karlsruher Instituts für Technologie. Für viele Menschen ist das Smartphone inzwischen zur zweiten, externen „Festplatte“ unseres Gehirns geworden. Kontaktlinsen, die über die Tränenflüssigkeit den Blutzuckerspiegel messen und Seh-Implantate - wo fängt der Posthumanismus an, wo ist er ethisch nicht mehr zu vertreten? Der Posthumanismus befindet sich, als eine geistige Strömung, die den kreativen Gebrauch von Technik zur Verbesserung des menschlichen Daseins neu überdenkt, bereits auf dem Silbertablett der Zeitgeschichte.

Es wäre eben dann auch denkbar, dass Menschen ohne Behinderung sich durch technische Hilfsmittel Fähigkeiten aneignen, die über die normalen menschlichen Fähigkeiten hinausgehen. Schon heute wird an einem subkutanen Display für Smartphones gearbeitet. Kosmetisch werden Altersgrenzen operativ schon lange überschritten. Damit vergibt der Mensch allerdings die Chance, Falten als Lebenslinien lieben zu lernen und Charakterzüge schön zu finden. Auf dem Weg zur funktionalen Perfektionierung bleibt wohl das Menschliche, in seiner liebenswerten, da unvollkommenen Weise, auf der Strecke.

Ein Extrembeispiel ist wohl der australische Körperkünstler Stelios Arcadiou, der überhaupt keine ethischen Bedenken mehr kennt. Der Biohacker betrachtet den Körper als reines Forschungsobjekt, das beliebige Erweiterungen zulässt. Und so schmückt seinen Unterarm ein aus Stammzellen entwickeltes Ohr.

Dieses technische, funktionale Verständnis des Körpers kollidiert mit dem Begriff des „beseelten Leibes“. Wo bleibt dann die sinnliche Seite? Inwieweit verändern diese funktionalen Körperteile unser Bewusstsein? Und inwieweit erschüttern diese Tendenzen das christliche Weltverständnis vom Menschen als einer Existenz, die natürlichen Grenzen unterworfen ist? Bisher finden diesbezüglich kaum ethische Diskussionen statt, was aber unbedingt zu empfehlen wäre, wenn wir nicht alle eines Tages als seelenlose Mensch-Maschine-Zwitter aufwachen wollen. Wie schön, dass anno 2016 viel Menschliches einfach weiterhin unsere Sinne bewegt.