Schon nach dem zweiten Song nass geschwitzt: Bosse verausgabt sich für sein Publikum. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Ingo Weiß

Stuttgart -Die „Weinbergschnecke der deutschen Musiklandschaft“ hat man Axel Bosse einmal genannt. Mit 16 war „Aki“, der aus Hemkenrode bei Braunschweig stammt, ausgezogen, um Musik zu machen. Jahrelang tingelte der Niedersachse mit bestenfalls mittelmäßigem Erfolg durchs Land, lieferte grundsolide Alben und zahllose Konzerte ab und bekam meist doch nur einen Hungerlohn dafür. Der große Erfolg ließ auf sich warten.

Es liegt also ein wahrlich langer, steiniger Weg hinter dem 36-Jährigen, der ihn jetzt in die Stuttgarter Liederhalle führte. 3000 Fans füllen den Beethovensaal bis auf den allerletzten Platz, die allerwenigstens sitzen, die Mehrzahl feiert trotz Platzmangel Party, hüpft, schwitzt, tanzt, zeigt Hände. Sie engtanzen! So, „Engtanz“, heißt Bosses sechstes Album, sein erstes Erwachsenen-Album. Aki meint allerdings den engen Tanz mit dem eigenen Leben. Elf Songs, die bewegende Geschichten über verpasste Chancen, Ratlosigkeit und innere Unruhe erzählen, haben das Album zu Recht in den Charts hochkatapultiert. Vom Klammer-Blues zu Teenagerzeiten sind Album und Konzert weit entfernt.

Bosse kann nicht besonders schön tanzen, eher linkisch, eher grönemeyermäßig hampelig federt er derwischartig über die Bühne. Tanzt sich quasi derart den Wolf, dass man ihn hinterher vom Parkett kratzen kann. Er ist auch kein Charismatiker, und seine Stimme ist eher okay als herausragend. Aber Bosse ist Schweiß. Ist Körpereinsatz. Ist Hingabe. Ist Gefühl. Ist Lockerheit. Ist Authentizität. Ist entwaffnende Ehrlichkeit. Er erarbeitet sich Musik, ohne Scheu sich zu früh voll zu verausgaben.

Pure Ekstase, kollektives Hüpfen

Nach dem eher gediegenen Opener „Außerhalb der Zeit“ ist Bosse schon beim zweiten, älteren Song „So oder So“ gänzlich nass geschwitzt. Das mitreißend-rasante Stück ist pure Ekstase und kollektives Mithüpfen. Kein Wunder dass dieser Song 2013 den Bundesvision Song Contest gewann. Fortan mixt er leger in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt alte („Frankfurt Oder“) und neue Pop-Perlen („Dein Hurra“), melancholische („Nachttischlampe“) und euphorische Momente („3 Millionen“, inklusive Tribünen-Enterung), traurig-nachdenkliche Balladen („Yipi“) und wilde Gelage („Vier Leben“). Allesamt sind es Hymnen an besondere Momente, gute oder schlechte Erinnerungen, mit Texten zum Dahinschmelzen. Die Fans verlieren sich geradezu in den feinsinnigen und energiegeladenen Stücken. Bosse ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Und Deutschlands derzeit offenherzigster Sänger. Bosse der Wortgewaltige.

Ein Tröster. Ein Seelentröster. Bosse findet eine Sprache, die sein Publikum abholt. Die Sprache ist in deutschsprachigen Indiepop verpackt, sensibler, dicht produzierter Pop, mit tanzbaren Melodien. Mit dem fulminanten „Alter Strand“, das von Kindheitserinnerungen am FKK-Strand erzählt, erreicht das Konzert einen zweiten Höhepunkt. Bosse wird zuvor sehr persönlich, erzählt innig von Familie und Freunden. Überhaupt kredenzt der kumpelige Sympathikus obligatorisch immer wieder Geschichten und Anekdoten. Allerdings redet er sich dabei schon mal so um Kopf und Kragen, dass das Konzert in der Mitte etwas zerfasert.

Die opulenten Arrangements der „Weiche Landung“-Tour, mit der Bosse vor zwei Jahren im Theaterhaus gastierte, sind einer rockigen, lauteren Attitüde gewichen. Die siebenköpfige, superbe Band agiert, angetrieben von einem explosiven Schlagzeug, energetisch und bissig. Stets aber wird die Instrumentierung den Stücken dienlich untergeordnet. Da klingen dann schon mal eine Trompete oder ein Akkordeon durch, gespielt vom Multiinstrumentalisten Martin Wenk, den Bosse selbstredend von der Wüstenrock-Band Calexico „rausgekauft“ hat. Aus „Istanbul“ macht Niklas Hardt mit seinem Cello eine atmosphärisch grandios stimmige Verschnaufpause. Der Wahl-Hamburger Bosse lebte mit seiner Frau Ayse, einer Türkin und Schauspielerin, und Tochter einige Monate am Bosporus.

Erstes Bier, erste Liebe, erster Kuss

Die ergreifendsten Momente gelingen Bosse bei „Schönste Zeit“. Mit der emotionalen Coming of Age-Hymne, seinem größten Hit, erinnert er sich an seine Jugend: an seine erste Liebe, erstes Bier, ersten Kuss und den Tag als Kurt Cobain starb. Bosse selbst ist Lebensfreude pur und mit ihm schmachten weibliche Fans, die zum Teil noch gar nicht geboren waren zu dieser Zeit. Die schönste Zeit, sie ist sowieso hier und jetzt. 130 Minuten lang gibt Bosse Vollgas, sein Elan ist, wenn der nicht gerade durch Unterzuckerung eingeschränkt ist, der kurzerhand mit einem Snickers abgeholfen wird, geradezu unbezwingbar. Bei aller Leichtigkeit spielt er das Publikum regelrecht gefühlsduselig. Die Stimmung im Beethovensaal ist grandios. Freude schöner Bosse-Funken!

Im glitzernden Konfettiregen und mit „Kraniche“ endet Bosses Konzert „zum Glücklichsein“. Am Ende sind alle glücklich. Die trunkenen Fans sowieso und Bosse, weil er sich endgültig als einer der besten Live-Künstler Deutschlands etabliert hat.