Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Während Opern- und Schauspielintendanten oft viel schneller wechseln, sind zwei Jahrzehnte beim Ballett keine ganz so große Seltenheit. Dennoch werden die 20 Jahre, die der Stuttgarter Ballettintendant Reid Anderson derzeit mit einer Festwoche feiert, als ein weiterer Glücksfall in die an Wundern nicht arme Stuttgarter Tanzgeschichte eingehen. Um ihre glückliche Kontinuität beneiden uns Städte wie Berlin oder derzeit sicher auch München.

Genau wie er es damals der Findungskommission versprochen hatte, die ihn innerhalb von nur zwei Tagen berief, traf Anderson seit Sommer 1996 tatsächlich exakt die richtige Mischung aus Kontinuität und Aufbruch. Zuerst sorgte er, der von 1969 bis 1985 selbst Tänzer im Stuttgarter Ballett war, dafür, dass sein zu einem Drittel erneuertes, junges Ensemble ein paar große Klassiker bekam, weil die akademische Technik der Danse d’ecole einfach die Grundlage für die technische Qualität einer Kompanie bildet. Dann aber, als dieses Repertoire vorhanden war, kam sozusagen die Kür, jetzt ging es los mit den modernen Handlungsballetten: Christian Spucks Wedekind-Adaption „Lulu“ war nur eines von insgesamt neun neuen Handlungsballetten, die oft eine ganz neue Ästhetik, einen neuen Erzählstil propagierten.

Tradition und viele Uraufführungen

Genauso wichtig war die amerikanische Neoklassik, von der Stuttgart bis dahin viel zu wenig kannte: Anderson brachte wieder mehr von George Balanchine, und er holte regelmäßig Ballette von Jerome Robbins, die deutsche Erstaufführung von „Dances at a Gathering“ war ein weiterer Höhepunkt seiner Intendanz. Umsichtig pflegt er nicht nur die Meisterwerke, die Kenneth MacMillan einst hier uraufführte, und nicht nur die drei berühmten Namen John Neumeier, Jiří Kylián und William Forsythe, die Stuttgart damals in die Welt hinausgeschickt hat, sondern er greift auch die Traditionen wieder auf, die seine Vorgängerin Marcia Haydée aufgebaut hat, zeigt weiter Hans van Manen und Maurice Béjart.

Vor allem aber, und das macht ihn unter seinen deutschen und internationalen Kollegen seit Jahren einzigartig, gibt Reid Anderson so viele Uraufführungen wie sonst kaum eine große Ballettkompanie in Auftrag - mindestens vier oder fünf pro Spielzeit, oft doppelt so viele, vom großen Abendfüller mit Auftragsmusik bis zum kleinen Solo für eine Gala. Nicht alles gelingt, aber das Risiko kann er bei seinem so treuen wie neugierigen Publikum in Kauf nehmen. Dennoch waren es ganz erstaunlich viele Choreografen-Karrieren, die in diesen 20 Jahren hier ihren Anfang oder ihren ersten wichtigen Aufschwung nahmen. Auch wenn das Repertoire zuweilen stark in die eine oder andere Richtung ausschlug, über die Jahre hinweg hat Stuttgart einen Reichtum der Stile und Neuentdeckungen genossen, der sein anspruchsvolles Tanzpublikum zum einen glücklich, zum anderen noch kenntnisreicher machte.

Was Anderson definitiv von allen deutschen Kollegen unterscheidet, ist sein Ensemble: Genau wie er es bei John Cranko gelernt hat, baut er seine Tänzer selbst auf. Er kauft nicht fertige Solisten bei anderen Truppen ein, sondern holt sie praktisch ausnahmslos von der Schule (möglichst von der eigenen), füttert ihnen die richtigen Rollen zur richtigen Zeit, fordert sie im reiferen Alter mit Aufgaben heraus, die sie sich selbst nicht zugetraut hätten, erweitert beständig ihr Spektrum.

Seine Solisten sind Alleskönner

Das ist eine stilprägende Tradition, die selbst in renommierten Kompanien wie dem Londoner Royal Ballett längst verloren ging und sonst nur noch in Paris, St. Petersburg, Moskau oder beim New York City Ballet gepflegt wird. Wie viele Publikumslieblinge hat Stuttgart in den 20 Jahren unter Reid Anderson heranwachsen sehen, angefangen beim blonden Prinzen Robert Tewsley, wie viele international berühmt gewordene Solisten hat der Kanadier ausgebildet. Es sind Alleskönner, wie sie damals schon John Cranko prägte, vor allem aber sind sie dramatische Tänzer, die sich bis zum Allerletzten in ihre Rollen werfen. Was die Besonderheit der Aufführungen ausmacht, ist ihre Frische, ihre Spontaneität; Snobismus oder Lustlosigkeit kennen Reid Andersons Tänzer schlichtweg nicht.

John Crankos Werke, die Grundlage des Repertoires, werden nach wie vor wunderbar getanzt - nur leider immer dieselben. Eine Rekonstruktion der alten, vergessenen Stücke hat Anderson nie in Angriff genommen, bald dürfte es zu spät dafür sein. Er wäre der richtige Mann am richtigen Platz gewesen, er hätte die richtigen Mitarbeiter gehabt - eine verpasste, kaum wieder gut zu machende Gelegenheit.

Dennoch lebt das Ballettwunder aus den 70er-Jahren bis heute fort, mit einer kleinen, inzwischen fast vergessenen Delle in den letzten Jahren von Marcia Haydées Intendanz. Es gibt international genügend Beispiele, wie unglaublich schwierig es ist, eine große Balletttradition zu übernehmen und ihr Niveau auf Dauer zu halten. John Crankos Kinder, Marcia Haydée und Reid Anderson, haben es geschafft, Stuttgart hat ein unglaubliches Glück mit seinem Ballett. Andersons Nachfolger Tamas Detrich wird es in zwei Jahren schwer haben, wenn er an diesen Vorgängern gemessen wird. Aber er hat bei einem der Besten gelernt.