Von Ulf Mauder

Stuttgart - So langsam neigt sich am Stuttgarter Ballett die Ära von Intendant Reid Anderson dem Ende zu. Der Abschied im kommenden Jahr wird nicht leicht. Das zeigt der Reigen an Würdigungen für den gebürtigen Kanadier, der einst in der Schwabenmetropole unter John Cranko als Tänzer begann, dann wieder nach Kanada ging - und als Intendant zurückkehrte. Mit einer rauschenden Gala feierte das Ballett 2016 seine 20-jährige Intendanz. Nun kommt ein intimes Buch über sein Leben und über die weltweit geschätzte Compagnie am 3. April in den Handel. „Reid Anderson. Having It. Vom Tänzer zum Intendanten.“ zeichnet mit vielen Fotos und Berichten von Kritikern und Weggefährten 60 Jahre gelebte Tanzgeschichte nach. Auf 240 Seiten gibt es Einblicke in Andersons Führungsstil, aber auch in das private Leben eines Tänzers, der im „biederen Stuttgart“ seinen Traummann fand. Und es geht um den Preis, den ein Balletttänzer für eine erfüllte Karriere zahlt: um Schmerz und Operationen.

Denkmal für den Übervater

Im Zentrum der Hommage aber steht das Stuttgarter Ballett, das Weltstars wie Marcia Haydée und John Neumeier hervorgebracht hat. Für viele in der Ballettwelt sei Anderson ein „Leitstern“, jemand mit einem Gespür für „das gewisse Etwas“, meint Dramaturgin Vivien Arnold. Sie gibt das Buch gemeinsam mit dem Ballett heraus. Diese „Anderson-Schule“ habe viele gefragte Tänzer und Choreografen sowie hochkarätige Ballettmeister und -direktoren hervorgebracht, sagt sie.

Wenn der Intendant zur Spielzeit 2018/2019 aufhört, dann geht er auf die 70 zu. Sein bisheriger Stellvertreter Tamas Detrich, der gut zehn Jahre jünger ist, soll nicht nur sein Erbe fortsetzen. Es geht auch um das Erbe des Übervaters des Balletts: John Cranko (1927-1973). Das Buch ist nicht zuletzt ein Denkmal für ihn. Die Autoren beschreiben, wie Andersons Eltern an der kanadischen Westküste erst das steppende Kleinkind, dann den Musicaldarsteller und schließlich den Eleven in London unterstützen. Weil ihn das Royal Ballet dort wegen seiner überragenden Größe nicht engagiert, tanzt er in Stuttgart bei Cranko vor. Hier lernt er auch den Disponenten Dieter Graefe kennen. „Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie hat bis heute gehalten“, sagt Anderson in dem Buch. Es ist auch der Beginn einer erfolgreichen Karriere eines Tänzers, der trotz seines Körperbaus zum gefeierten Solisten wird: „Großer Kopf, kurzer Hals, keine Schultern, wie eine Zigarettenschachtel auf zwei Zahnstochern. Großes Kinn“, beschreibt er sich selbst. Cranko dagegen schätzt gerade das, diese „dunkle, kantige Würde“.

Jahre später, 1973, auf dem Rückflug von einer US-Tournee, stirbt Cranko. Der plötzliche Tod stürzt nicht nur die Tänzer, die im Flugzeug Augenzeugen der Tragödie werden, in tiefe Trauer. Die Compagnie ist wie gelähmt. Erst als Marcia Haydée, Crankos Muse, die Leitung in die Hand nimmt, kommt das Ensemble wieder auf die Beine. Anderson tanzt neben Stars wie Egon Madsen und Richard Cragun. 17 erfolgreiche Jahre vergehen in Stuttgart, bis er nach Kanada zurückkehrt, um Ballettdirektor zu werden. Doch als dort die öffentlichen Zuschüsse gekappt werden, weil viele Kanadier lieber auf die Skipiste oder zum Fischen als ins Ballett gehen, packt er seine Sachen. Zehn Jahre nach seinem Abschied kehrt er 1996 nach Stuttgart zurück - diesmal als Chef. Viele Tänzer sind in die Jahre gekommen. Anderson muss sich unter anderem von Birgit Keil, Cragun und Madsen trennen - und die Compagnie verjüngen.

Detrich soll Tradition fortführen

Aus Kanada folgen ihm Robert Tewsley, Margaret Illmann, Vladimir Malakhov, Eric Gauthier und dann auch Jason Reilly. Stolz ist Anderson auf die neue Optik: „Die Männer sind größer und haben längere Beine, vor allem lange Oberschenkel; die Frauen sind ebenfalls groß, schmal und haben nur selten weibliche Rundungen.“ Kritiker bemängeln zwar, es gebe keine echten Typen mehr. Aber viele Ballettdirektoren werben immer wieder die in Stuttgart mit großem Aufwand ausgebildeten Tänzer ab.

Fortsetzen soll diese Tradition nun der US-Amerikaner Tamas Detrich. Mit der Nachfolge ist auch die 79-jährige Marcia Haydée zufrieden: „Tamas kam noch am Anfang meiner Zeit.“ Und er habe noch die Cranko-Zeit gespürt. Jemand von außen, warnt sie, würde dieses Vermächtnis zerstören. Von sich selbst meint Detrich, er habe das Herz Haydées und die Seele Andersons. So sieht er die Zukunft des Balletts auch nach Andersons Abschied gesichert.

Vivien Arnold: Reid Anderson. Having It. Vom Tänzer zum Intendanten.“ 240 Seiten, 39,95 Euro.