Heile Familienwelt: Cate Blanchett spricht als „Tischgebet“ das Manifest von Claes Oldenburg, während ihr Mann und ihre drei Söhne die Hände falten. Fotos: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart -Ein apokalyptisches Szenario: Durch das Gelände einer verfallenen Zement- und Düngemittelfabrik in Rüdersdorf bei Berlin zieht ein zerzauster Wohnsitzloser einen Rollkoffer mit seinem Hab und Gut. „Die Menschheit durchläuft die schwerste Krise ihrer Geschichte“, zitiert eine Stimme in englischer Sprache aus dem Draft Manifesto des New Yorker John Reed Clubs, gegründet nach der Weltwirtschaftskrise in Erinnerung an den Dichter, Journalisten und Begründer der Kommunistischen Partei der USA. „Unterdessen erlegt die fortdauernde Wirtschaftskrise der Masse der Weltbevölkerung denjenigen, die mit Hand und Hirn arbeiten, immer größere Lasten auf.“ Wer den Text nicht kennt, könnte meinen, er sei nicht von 1932, sondern ganz aktuell.

„Wir appellieren an alle aufrechten Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler, endlich die trügerische Vorstellung fahren zu lassen, Kunst könne um ihrer selbst willen existieren“: Das situationistische Manifest, 1960 verfasst von Guy Debord, bleibt aktuell: „Gegen das Spektakel führt unsere Kultur die totale Beteiligung ein. Gegen die mumifizierte Kunst ist sie eine Organisation des erlebten Augenblicks.“ Auf dem Dach eines Gebäudes angelangt, wo die zerfetzten Polyeder des amerikanischen Echelon-Spionagesystems langsam verrotten, ruft nun der Bärtige selbst in ein Megaphon: „Wir, für deren Richter ihr euch vielleicht haltet, richten früher oder später euch!“

Widersprüche der Kunst

Die Staatsgalerie Stuttgart hat die zwölf Videos samt Prolog von Julian Rosefeldt erworben - oder Filme, denn der Aufwand, den der in München geborene Künstler treibt, steht Kinofilmen nicht nach. Nur laufen die Filme alle zusammen und synchronisiert in einer Installation. Die jeweiligen Texte sind in der Regel aus mehreren Manifesten zusammengestückelt und die dazu gehörigen Filme an mehreren Standorten gedreht: Die Echelon-Spionagesatelliten stehen nicht in Rüdersdorf, sondern auf dem Teufelsberg in Berlin-West. Dagegen spielt in allen zwölf Filmen - was bei dem bärtigen Tippelbruder nicht sofort auffällt - dieselbe Darstellerin die Hauptrolle: Cate Blanchett. Sie ist Nachrichtensprecherin, Lehrerin, trauernde Witwe oder Punkerin, ihre Haare sind kurz, lang, glatt, geföhnt, blond oder dunkel.

Schon das nächste Video entzieht dem revolutionären Pathos der Situationisten den Boden. Am Horizont eines Sees bricht wie ein fernes Versprechen ein Licht aus den Wolken hervor. Vorn auf der Terrasse treffen nach und nach die Gäste ein. Sekt wird gereicht. Die Gespräche sind gedämpft, die Kleidung entspricht dem Anlass. Schließlich hält eine hoch gewachsene Blonde in rotem Pulli eine Ansprache: „Es ist nicht nötig, ein ausgestoßener Bohemien, ungekämmt oder arm zu sein, so wenig wie es nötig ist, reich oder gutaussehend zu sein, um als Künstler zu gelten“, zitiert sie aus dem Manifest des britischen Schriftstellers Wyndham Lewis, der 1914 die Zeitschrift „Blast“ ins Leben gerufen hatte. „Blast will in erster Linie populär sein“, heißt es da. „Es will keine bestimmte Klasse ansprechen“ - in offenbarem Kontrast zu der Szenerie der Einladung.

Rosefeldts feine Ironie verweist auf einen der fundamentalen Widersprüche der Kunst, die für jeden zugänglich sein will und als Luxusgut einer kleinen Schicht von Bildungsbürgern endet. Dem stellt der Künstler die verruchte Welt eines Clubs gegenüber, dessen Besucher betrunken sind, rauchen und E-Gitarre spielen. Im nächsten Raum bilden der Zeichenunterricht in einer Schulklasse, eine Marionettenspielerin mit einer reichen Arsenal von Figuren von Karl Marx über Walter Ulbricht und Erich Honecker bis hin zu den Beatles und der Schauspielerin selbst, eine Choreografin mit stark russischem Akzent und einem futuristischen Ensemble sowie eine Beerdigung ein ungleiches Quartett. Periodisch am Ende des Zyklus verfallen alle Sprecherinnen in eine Art Lamento auf einem Ton, vom hohen Sopran bis zum tiefen Alt.

So konterkariert Rosefeldt die Manifeste der Futuristen und Dadaisten, der Surrealisten und Suprematisten und weiterer Künstlergruppen vorwiegend aus der Zeit der klassischen Moderne. Die Architekten bekommen ihr Fett ab, wenn eine Frau zu Bruno Tauts „Frühlicht“ früh morgens ihre Wohnung in einer Plattenbausiedlung verlässt und sich an ausgesuchten Beton-Scheußlichkeiten vorbei auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz in einer Müllverbrennungsanlage macht: „Unsere Häuser müssen wie gigantische Maschinen sein.“ Damit kontrastiert eine Börsenmaklerin, die zwischen männlichen Kollegen am Bildschirm sitzt und telefoniert, und zwar im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum von Max Dudler, der Bibliothek der Humboldt-Universität. Die Illusion zerfällt, ebenso wenn man in einem Labor, dessen Innenräume anderswo gedreht sind, die Universitätsbibliothek Cottbus von Herzog & De Meuron erkennt.

„Alles Ständische verdampft“

Als Mutter einer Familie, so konservativ, wie sie vielleicht nur noch im Film existiert, spricht Cate Blanchett, während ihre drei Söhne die Hände falten, Claes Oldenburgs Manifest als Tischgebet: „Ich bin für eine Kunst, die man sich anzieht wie Hosen, die Löcher kriegt wie Socken, die man isst wie ein Stück Kuchen oder schmählich zurücklässt wie ein Stück Scheiße.“

Als Nachrichtensprecherin im originalen ZDF-Hauptstadtstudio streift sie ihre Schuhe ab - die Füße sind nicht im Bild - und befragt sich selbst als Reporterin, die unter einem Schirm im künstlichen Studio-Regen steht, was unter Konzeptkunst zu verstehen sei.

Der Prolog mit dem unscharfen Bild einer abbrennenden Zündschnur zitiert aus der englischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests: „All that is solid melts into air“ - „Alles Ständische und Stehende verdampft.“ Ist bei Marx und Engels die überkommene Gesellschaftsordnung gemeint, so lässt sich das Zitat hier auch so verstehen, dass es in der Kunst, allen Manifesten zum Trotz, keine feststehenden Gewissheiten gibt.

Die Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart läuft bis zum 14. Mai 2017 und ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr geöffnet; im Katalog, erhältlich für 24,90 Euro im Museumsshop, sind alle verwendeten Manifest-Texte enthalten,in einer Beilage auch in deutscher Übersetzung.

www.staatsgalerie.de