Johann Reißer hat die Atmosphäre des Esslinger Bahnwärterhauses schätzen gelernt. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Johann Reißer zählt zu den bemerkenswertesten Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Er hat mit Prosa, Lyrik und intermedialen Beiträgen auf sich aufmerksam gemacht, wurde wiederholt ausgezeichnet und mit diversen Stipendien bedacht. Derzeit lebt und arbeitet der 37-Jährige als Bahnwärter-Stipendiat in Esslingen. Damit reiht sich der gebürtige Regensburger, der sonst in Berlin lebt, in einen Kreis renommierter Kolleginnen und Kollegen wie Felicitas Hoppe, Teresa Präauer, Judith Hermann, Joachim Zelter, Martin Gülich und Catalin Dorian Florescu ein, die vor ihm als Bahnwärter-Stipendiaten in Esslingen waren. Über seine Erfahrungen berichtet Johann Reißer im EZ-Gespräch.

Seit Ende August sind Sie als Bahnwärter-Stipendiat in unserer Stadt. Fühlen Sie sich inzwischen schon ein bisschen als Esslinger?

Reißer: Jein. Ich muss zugeben, dass ich mich hier mit dem Ankommen ein bisschen schwerer getan habe als in anderen Städten. Warum das so war, kann ich gar nicht so genau sagen. Vielleicht lag’s daran, dass die anderen Städte kleiner und damit auch ein bisschen übersichtlich waren. Deshalb habe ich mich stärker als etwa an meiner letzten Station in Pfaffenhofen auf meine eigene Arbeit konzentriert und die Projekte, an denen ich gerade arbeite, vorangebracht. Trotzdem gab es Anknüpfungspunkte in Esslingen, und das hiesige Kulturleben habe ich auch mitgenommen.

Und wie schaut’s mit der eigenen Arbeit aus: Sind Sie mit Ihren Projekten gut vorangekommen?

Reißer: Auf jeden Fall. Ich hatte mein Romanprojekt „Pulver“ im Gepäck, dem ich mich hier bevorzugt widmen wollte. Das setzt sich mit der früheren Rüstungsindustrie in Rottweil und mit der baden-württembergischen Industriegeschichte insgesamt auseinander. Esslingen ist für mich ein idealer Ort, um diesem Thema nachzugehen, weil sich hier sehr interessante Zusammenhänge ergeben und weil sich noch viele Spuren der Industriegeschichte zeigen. Ich konnte vieles recherchieren, was mir für die weitere Arbeit sehr hilfreich ist.

Sie haben nicht im Stadtzentrum gewohnt, sondern etwas abseits im Bahnwärterhaus. Lässt es sich dort arbeiten? Die abgeschiedene Lage im Merkelpark und die Nähe zur Bahn hat manche der früheren Stipendiaten eher abgeschreckt ...

Reißer: Ich denke, das hängt stark davon ab, mit welchen Erwartungen man hierher kommt und welcher Typ man ist. Ich mag es, wenn ein Ort eine gewisse Lebendigkeit hat. Und ich schätze Orte, die keine Idyllen sind und nicht in sich ruhen. Hier sitzt man an einer Schnittstelle: Einerseits ist man mitten im Park, andererseits hat man die Bundesstraße, den Neckarkanal und gegenüber die Bahnlinie direkt neben sich. Manchmal hat man das Gefühl, dass alles durchs Haus hindurch läuft. An die realen Erschütterungen habe ich mich schnell gewöhnt. Am wichtigsten war mir die Atmosphäre, die dieses alte Haus ausstrahlt. Für mein Romanprojekt war das Bahnwärterhaus sehr gut geeignet. Ich habe auf den Pulverwiesen gewohnt - das passt zu einem Roman, der den Titel „Pulver“ tragen soll. Früher wurde dort geschossen, später war dort das große Spinnereigelände, und noch heute fahren regelmäßig Züge vorbei. Da wird die Industriegeschichte so richtig greifbar, was meinem Projekt sicherlich gutgetan hat.

Der Bahnwärter ist nicht Ihr erstes Stipendium. Ist das Esslinger Förderkonzept so richtig angelegt?

Reißer:Mir gefällt es ganz gut, wie Esslingen sein Bahnwärter-Stipendium praktiziert. Es ist ziemlich offen und man hat nicht allzu viele Verpflichtungen. Das ist in anderen Städten anders. Ich hätte nichts dagegen, wenn man als Stipendiat noch stärker ins örtliche Kulturleben eingebunden wäre. Ich mag es, mit Leuten vor Ort zusammenzuarbeiten. Mit der örtlichen Kunstszene hätte ich mir eine engere Kooperation vorstellen können. Schade, dass das nicht so geklappt hat, wie ich es mir gewünscht hätte.

Müsste die Stadt mehr tun, um den Kontakt zu anderen Kulturschaffenden anzubahnen?

Reißer:Ich will die Verantwortung gar nicht alleine an die Stadt weiterreichen. Solche Kontakte kommen immer auf sehr unterschiedlichen Wegen zustande. Mal läuft es besser, mal weniger gut. Das ist auch ein bisschen Glückssache.

Trotz der vielen Arbeit waren Sie in der Stadt sehr präsent ...

Reißer: Das stimmt schon, und es gab auch vieles, was mich sehr interessiert hat. Die LesART war ein Erlebnis, die Reihe „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ war sehr spannend und hat sich gut mit meiner Arbeit ergänzt. Bei beiden habe ich mich beteiligt, weitere Auftritte gab es zum Beispiel im Kulturpalast am Bahnhof und im Central Theater. Beim Science-Slam werde ich auch noch auftreten, und am 22. April gibt es eine Abschluss-Performance im Bahnwärterhaus. Ich habe also einiges hier gemacht.

Vor Ihrer Bahnwärter-Zeit hatten Sie ein Stipendium in Pfaffenhofen - Sie sind also schon eine ganze Weile weg aus Berlin, wo Sie eigentlich wohnen. Fühlt man sich da nicht ein bisschen entwurzelt?

Reißer: So will ich das nicht sagen. Beide Stipendien habe ich sehr gerne angenommen, und beide haben mir sehr geholfen, meinen Roman voranzubringen. Bis Ende April, Anfang Mai werde ich noch hier sein, aber dann freue ich mich auch, wieder in Berlin zu sein - mit meinen Freunden und mit mehr Alltag.

Wird Ihr Roman fertig sein, wenn Sie in Esslingen die Koffer packen?

Reißer: Schön wär’s, aber das muss man sehen. Ich arbeite derzeit noch sehr intensiv in Archiven in Rottweil und Stuttgart, um das nötige Material zusammenzutragen. Ich will den Bogen vom 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart spannen. Weil das eine ziemlich große Stoffmenge ist, habe ich den Roman in zwei Teile gegliedert. Der erste endet mit dem Ersten Weltkrieg, und zumindest diesen Teil würde ich gerne in Esslingen vollenden.

Der Blick von außen eröffnet neue Perspektiven. Welchen Eindruck haben Sie von der Esslinger Kultur?

Reißer: Es ist spannend, was es hier alles gibt - denken Sie nur an die LesART mit ihrem beeindruckenden Programm. Und das Projekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“: Ich habe in diesem Bereich viel recherchiert und kenne im europäischen Raum nichts Vergleichbares. Und auch im Jazzkeller habe ich hochkarätige Konzerte erlebt. Schade fand ich, dass ich kaum junge Kulturschaffende kennengelernt habe. Die meisten waren von außerhalb eingeladen. Aus der Stadt heraus ist mir wenig begegnet. Da scheint es weniger zu geben als in anderen Städten. Aber insgesamt passiert in der Esslinger Kultur eine ganze Menge. Hier braucht man sich nicht zu langweilen.

Das Interview führte Alexander Maier.

Johann Reisser persönlich

Johann Reißer wurde 1979 in Regensburg geboren und ist in Lambertsneukirchen aufgewachsen. Nach der Ausbildung zum Steuerfachangestellten studierte er Literaturwissenschaft und Philosophie in Regensburg und Berlin. Anschließend promovierte er am Graduiertenkolleg „Lebensformen und Lebenswissen“ mit einer Doktorarbeit zum Thema „Archäologie und Sampling - Die Neuordnung der Lyrik bei R. D. Brinkmann, T. Kling und B. Köhler“. Er hat Lyrik, Prosa und intermediale Arbeiten in Zeitschriften im In- und Ausland veröffentlicht und war bereits in zahlreichen Lesungen zu erleben, wobei er Literarisches oft mit Musik und Medien ergänzt. 2009 hat Reißer die Theatergruppe PlastikWorks gemeinsam mit Kamila Handzik gegründet. Seit 2012 ist er mit unterschiedlichen Performancegruppen im deutsch- und englischsprachigen Raum aufgetreten. Er arbeitet als Autor und Theatermacher in Berlin und anderswo. Reißer hat diverse Stipendien erhalten und hat seine literarische Finesse bei Wettbewerben unter Beweis gestellt.

www.johannreisser.com