Es gibt nicht nur Krise in der Klassik: Cornelia Weidner und Graham Johnson verzeichnen ein wachsendes Publikumsinteresse. Foto: Reiner Pfisterer Quelle: Unbekannt

Stuttgart - Der Wettbewerb für Liedkunst der Hugo-Wolf-Akademie, weltweit einer der renommiertesten seiner Art, findet in diesem Jahr zum zehnten Mal in Stuttgart statt. Zu den Juroren zählt der englische Liedpianist Graham Johnson, spätestens seit seiner Gesamteinspielung der Lieder Franz Schuberts einer der ganz Großen seines Fachs. Im Gespräch erläutern er und Akademie-Intendantin Cornelia Weidner, wie und warum die oft totgesagte Gattung Kunstlied sehr lebendig sein kann.

Auf der Preisträgerliste der bisherigen Liedkunst-Wettbewerbe findet man Namen, die inzwischen auch auf der Opernbühne einen guten Klang haben. Sind die Unterschiede zwischen Lied- und Operngesang tatsächlich so groß, wie manchmal behauptet wird?

Johnson: Nein. Der Unterschied zwischen Opern wie „Pelléas et Melisande“ und dem „Freischütz“ ist größer als zwischen Lied- und Operngesang, falls man das so allgemein sagen kann. Ein guter Sänger ist ein guter Sänger. Und es gibt die schöne deutsche Tradition der Vielseitigkeit, die gerade auch bei uns in England sehr geschätzt wird: Man singt Oper und Lied.

Gibt es trotzdem eine Besonderheit des Liedgesangs?

Johnson: Den Rhythmus, wegen der musikalisierten Sprache. Es geht nicht nur um schöne Stimmen, sondern um die Verbindung von spontaner Leidenschaft und Intelligenz gegenüber dem Text. Man muss die Dichtung kennen. Liedgesang setzt Bücher im Regal voraus.

Welche Bedeutung hat der Stuttgarter Liedkunst-Wettbewerb?

Weidner: Im Bereich Lied ist er weltweit einer der wichtigsten - auch weil wir den Schwerpunkt auf den kammermusikalischen Aspekt legen: Wir prämieren keine einzelnen Sängerinnen oder Sänger, sondern Liedduos aus Sänger und Pianist. Die Attraktivität sehen wir an der Zahl der Anmeldungen. Mit keiner anderen Veranstaltung erreicht die Hugo-Wolf-Akademie so viel internationale Aufmerksamkeit. Wir haben immer volles Haus, der Livestream vom Wettbewerb wird auf der ganzen Welt geguckt.

Johnson: Musik ist der wichtigste deutsche Exportschlager, da kommt kein Mercedes ran. Für Musiker aus England ist das phantastisch, ein Wettbewerb im Heimatland des romantischen Kunstlieds.

Kann man mit Liedern noch eine Karriere machen? Oder ist der Wettbewerb nicht eher ein Durchlauferhitzer auf dem Weg zur Opernbühne?

Weidner: Es ist selbstverständlich, dass junge Sänger nach einem Engagement in einem Opernensemble streben. Aber viele geben auch dann noch Liederabende. Das ist unser Ziel.

Johnson: In einem Ensemble ist man aufgehoben und hat ein festes Engagement. Natürlich bietet das einem Künstler Sicherheit. Ein Liederabend dagegen geht auf eigenes Risiko, dazu bracht man Mut, auch künstlerisch: Man muss viel Text meistern und ist sein eigener innerer Dirigent. Nur der Pianist kann den Sänger unterstützen, ihm gestalterische Impulse geben.

Sind Liederabende überhaupt noch nachgefragt?

Weidner: Bei jungen Sängern ist das überhaupt keine Frage, denen ist das Lied sehr wichtig.

Und das Publikum?

Weidner: Wir haben ein wachsendes Publikum, und wir machen immer die Erfahrung, dass die Kraft und die Wirkung des Kunstlieds ungebrochen sind. Freilich kommt überwiegend die ältere Generation in die Konzerte, aber diese Altersgruppe wird immer größer und gesellschaftlich immer wichtiger. Das ist keine aussterbende Spezies. Dass die großen Veranstalter kaum mehr Liederabende anbieten, ist die eine Sache. Aber es gibt viele kleine Initiativen und auch größere Festivals, die gezielt Liedkonzerte aufs Programm setzen. Die Zeit, als Lieder als passé galten, scheint in eine Phase neuen Interesses überzugehen. Vielleicht kommt uns sogar die Globalisierung oder zumindest die weltweite Kommunikation zugute. Wir haben erst jetzt neue Mitglieder aus Chicago bekommen.

Johnson: Das Lied ist unsterblich.

Ist es nicht als Ausdruck einer vergangenen bürgerlichen Gefühlskultur nur rückwärtsgewandt?

Johnson: Was ist denn nicht alles vergangen? Rembrandt, Shakespeare, Schubert - Shakespeare kann man neu inszenieren, Schubert neu interpretieren.

Weidner: Die Gefühle, um die es in den Liedern geht, sind dieselben geblieben, auch wenn der Bildungshorizont heute ein anderer ist. Aber die Musik kann eine Brücke zu den Texten sein. Außerdem ist die Gattung Lied nicht verschwunden, sondern wird von vielen Komponisten der Gegenwart fortgeführt.

Das Interview führte Martin Mezger.

Die zweite und dritte Runde des Wettbewerbs (heute und am Samstag jeweils ab 11 Uhr in der Musikhochschule) sind öffentlich. Das Preisträgerkonzert beginnt am Sonntag um 17 Uhr in der Musikhochschule. Livestream unter www.lied-wettbewerb.de.