Der Zwist zwischen Erdogan und Gülen wird auch unter Türkischstämmigen im Landkreis ausgetragen. In der Moschee bleibe Politik aber außen vor, sagt ein Muslim. Foto: Archivfoto Kaier - Archivfoto Kaier

Von Greta Gramberg
Unterschiedlicher könnten sie kaum sein, die Bewertungen des Putschversuches in der Türkei und seiner Folgen. Während viele türkische Medien die Schuld klar bei Anhängern des Predigers Fethullah Gülen verorten, hinterfragt die Presse hierzulande vor allem die Reaktionen der türkischen Politik und ihre Vereinbarkeit mit demokratischen Werten. Einige Türkischstämmige hierzulande schlagen sich auf eine dieser Seiten und tragen den Konflikt nun selbst aus – auch im Landkreis Esslingen. Es herrschen Angst vor Repressionen und Enttäuschung gegenüber den eigenen Landsmännern. Viele, die zuvor offen ihre Meinung gesagt haben, tun das nur noch hinter vorgehaltener Hand.

Denunziation im Internet

Das liegt auch daran, dass vermeintliche Gülen-Anhänger in Listen in den sozialen Netzwerken denunziert werden. Wer auf Facebook sucht, wird schnell fündig. Für jeden sichtbar veröffentlichen mehrere Mitglieder der Plattform die Aufzählung auf ihrem Profil mit dem Aufruf, die darauf stehenden Geschäfte, Organisationen und Personen zu boykottieren, weitere Namen zu ergänzen und die Liste weiterzuleiten. Eine Telefon- und Faxnummer der türkischen Regierung steht darunter, der die Tipps direkt zugespielt werden können.
Auch die Familie von Kaan Cinar, die ein Juweliergeschäft in Esslingen und einen Supermarkt in Göppingen betreibt, ist auf der Liste zu finden. Vor einem Monat habe er die Aufzählung von einem Freund erhalten, erzählt Cinar. Sie werde auch über den Nachrichtendienst Whatsapp weitergeleitet. Wer sie lanciert hat, weiß er nicht. Weil viele Geschäfte in Stuttgart darauf stehen, vermutet Kaan Cinar, dass Privatleute in der Landeshauptstadt sie initiiert haben.
Kaan Cinar bekennt sich zur Gülen-Bewegung. Er hat in seiner Gymnasialzeit ein Jahr lang in einer WG der Gruppierung gelebt. Aktuell trifft er sich regelmäßig mit Gleichgesinnten, um Tee zu trinken und zu plaudern. Sie sammeln auch Spenden für Entwicklungsprojekte. „Es ist keine Sekte, wie behauptet wird“, sagt Cinar. Es gebe bei den Treffen keinerlei religiöse Zeremonien und man verehre Gülen nicht, er sei nur ein Ideengeber.
Kaan Cinar glaubt nicht, dass Gülen Kopf des Putschversuches ist. „Aber selbst wenn: Was haben wir Türken in Deutschland damit zu tun?“ Seit der Veröffentlichung der Liste laufen Freunde ohne Begrüßung an Kaan Cinar vorbei. „Ich wurde auch schon als Vaterlandsverräter beschuldigt von Freunden und Bekannten“, erzählt er. Angst habe er nicht. „Gott sei Dank lebe ich in Deutschland“, sagt der Geschäftsmann mit deutschem Pass. Allerdings sei er vorsichtiger geworden, rede nicht mehr mit jedem über alles. Ob er wegen der Boykottaufrufe Geschäftseinbußen hat, kann Cinar noch nicht sagen. Im August sei immer wenig los.
„Bis jetzt haben wir Gott sei Dank keine Einbußen“, sagt ein Geschäftsmann aus Stuttgart, der ebenfalls auf der Liste steht und nicht namentlich genannt werden will. Der Großteil seiner Kunden hätten keinen türkischen Hintergrund. Aber es gebe schon Leute, die plötzlich seine Feinde seien. Dem Unternehmer zufolge steht er auf der Liste, weil er seine Kinder auf die Stuttgarter Bil-Schule schickt, die aufgrund ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung unter Polizeischutz steht. Auch für die Firmen auf der Liste gebe es nun je einen zuständigen Polizisten, der regelmäßig vorbeischaue, sagt der Mann. Angst um sich selbst habe er nicht, dafür aber um seine Familie in der Türkei. Den kommenden Urlaub verbringt er lieber in Europa.
Dabei sieht sich der Stuttgarter nicht als Teil der Gülen-Bewegung, er habe lediglich für einige ihrer Projekte gespendet. „Man schickt seine Kinder zur Bil-Schule und schon gehört man zur Gülen-Bewegung und ist ein Vaterlandsverräter. So einfach macht man es sich“, ärgert sich der Familienvater. Auf der Boykott-Liste stünden auch Firmen, die keinen türkischen Hintergrund haben. „Da sieht man, dass das Leute zusammengestellt haben, die keine Ahnung von der Welt haben.“ Es gebe auch allerlei böse Kommentare von Erdogan-Anhängern im Internet, die etwa drohen, dass Gülen-Anhänger bald in ihrem eigenen Blut baden würden.
Im Kreis Esslingen gibt es bislang keinen Polizeischutz für Gülen-Anhänger. Es seien keine Gewalttaten oder andere Auseinandersetzungen in diesem Zusammenhang geschehen, die einen Polizeieinsatz zur Folge gehabt hätten, berichtet Andrea Kopp, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Reutlingen. „Es gibt ein paar Sachverhalte, bei denen die Staatsanwaltschaft überprüft, ob sie strafrechtlich relevant sind.“ Dabei handele es sich etwa um Äußerungen, die in Richtung Beleidigung gehen könnten.
„Man versucht so, die Leute und die Demokratie in der Türkei zu schützen“, verteidigt ein Türkischstämmiger aus Esslingen, der ebenfalls lieber anonym bleiben will, die Reaktion Ankaras. Für ihn steht fest, dass der Putschversuch aus den Reihen der Gülen-Bewegung heraus entstanden ist, man habe dafür ja die Aussagen von Militärchef Hulusi Akar. Laut der türkischen Regierung war er von Putschisten gefangen genommen worden, die ihm ein Gespräch mit ihrem Anführer Gülen anboten.

Medien sind Teil des Problems

Der Esslinger mit türkischen Wurzeln hält die Berichterstattung in Deutschland für einseitig. Man höre aber kaum etwas über die Toten durch den Sturz und die Zivilisten, die sich gegen die Panzer gestellt hätten. Stattdessen versuche man hierzulande, die Gülen-Leute zu schützen. Natürlich gebe es unter ihnen auch Personen, die nichts von den Putschplänen wussten. Er verstehe aber nicht, wenn man sich jetzt nicht von der Bewegung lossage „Das ist, was die Leute im Großen und Ganzen denken“, sagt der Muslim. In der Moschee könnten aber auch Gülen-Sympathisanten beten. „Es war schon immer so, dass Politik dort außen vor ist.“
„Wir müssen versuchen, die Menschen hier in Deutschland zu einem friedlichen Miteinander zu bringen“, sagt Erdal Özdogan. Diese Listen und ähnliches dürfe es hier nicht geben, findet der Ingenieur und Esslinger FDP-Kandidat bei der vergangenen Landtagswahl. Er versuche, in seinem Freundeskreis die Wogen zu glätten. Denn in der türkischen Community herrsche derzeit eine bedrückende Atmosphäre, die Leute seien sehr verunsichert. Viele würden sich aus Furcht vor Haftstrafen nicht mehr in die Türkei trauen und auch Familien seien gespalten.
„Ich persönlich fühle mich keiner Bewegung oder ähnlichem verbunden“, sagt Özdogan. Er könne nicht sagen, ob der Putschversuch aus der Gülen-Bewegung heraus entstanden sei. Alle zu stigmatisieren, die begeistert von den Lehren Gülens sind, hält er aber für falsch. Er kenne viele, die man als der Gülen-Bewegung zugehörig bezeichnen könne, die alle vertrauenswürdig, weltoffen und keineswegs Vaterlandsverräter seien, so Özdogan. Als Teil des derzeitigen Problems sieht auch er eine undifferenzierte Berichterstattung der Massenmedien in Türkei und Deutschland.
In den kommenden Monaten werden viele Türkischstämmige im Landkreis Esslingen und anderswo wohl weiterhin vorsichtig sein. Selbst die, die zuvor kein Blatt vor den Mund genommen haben. So erzählt etwa eine Frau aus Aichwald, sie habe von Bekannten viel Lob dafür bekommen, dass sie sich in der Vergangenheit auch in der Zeitung gegen Erdogan und seine Politik ausgesprochen hat. Nun würde sie das aber nicht mehr tun. „Ich habe schon ein wenig Angst, verhaftet zu werden, wenn ich das nächste mal in die Türkei fliege“, sagt die Frau mit türkischen Wurzeln, die ihren Namen nicht mehr in der Zeitung lesen möchte.

Gülen und die Hizmet-bewegung

Fethullah Gülen (75) gilt als einflussreichster islamischer Prediger der Türkei. Seine Anhänger haben ein Netzwerk gegründet, das in vielen Ländern aktiv ist – auch in Deutschland. Gülen lebt seit 1999 zurückgezogen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Ziel der Bewegung ist es, Muslime über Bildungseinrichtungen, Medien und Vereinsarbeit für eine fromme Lebensweise zu gewinnen. Angestrebt werden Bildung und beruflicher Erfolg. Auch deshalb sind viele «Fethullahci» in der Türkei in Schlüsselpositionen aufgestiegen.

Für die Regierungspartei AKP war das lange kein Problem. Die Gülen-Anhänger bilden im Staatsapparat ein Gegengewicht zu den Kemalisten – der westlich orientierten alten Elite, die die Trennung von Staat und Religion im Sinne des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk hochhält. Zum Bruch kam es Ende 2013, als Erdogan die Gülen-Bewegung bezichtigte, einen Korruptionsskandal angefacht zu haben, durch den führende Politiker aus Erdogans Umfeld in Bedrängnis gerieten.

Für den Putschversuch vom 15. Juli macht die türkische Regierung nun ebenfalls Gülen verantwortlich. Sie fordert von den USA die Auslieferung des Predigers. Als Beweis für seine Schuld führt sie unter anderem Aussagen von Militärchef Hulusi Akar an, der während des Umsturzversuchs kurzzeitig von Putschisten gefangen gehalten worden war. Sie sollen gegenüber Akar den Prediger als Meinungsführer der Aufständischen bezeichnet haben. Nach dem gescheiterten Umsturz wurden Zehntausende Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen und mehr als 40 000 Verdächtige verhaftet. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat dazu aufgefordert, Gülen-Anhänger den Sicherheitskräften zu melden. Auch von deutschen Behörden fordert die Türkei Hilfe.

In Deutschland ist die Gülen-Bewegung, die sich hier Hizmet-Bewegung nennt, mit 150 Nachhilfevereinen, 30 Schulen und 15 interreligiösen Dialogvereinen aktiv. Sie betreibt Wohngemeinschaften und man trifft sich in informellen Kreisen. Dabei gibt es keine klare Organisationsstruktur, es handelt sich mehr um ein Netzwerk. Einige Einrichtungen und Anhänger bezeichnen Gülen auch nicht als Anführer, den sie verehren, sondern lediglich als Ideengeber.

Kritiker bezichtigen die Bewegung, den Staat zu unterwandern und junge Anhänger etwa in Nachhilfevereinen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Auch einige Politiker stellen kritische Fragen angesichts des konservativen Islamverständnisses von Gülen und den intransparenten Strukturen der Bewegung. 2014 hat das Baden-Württembergische Innenministerium auf Antrag des CDU-Landtagsabgeordneten Bernhard Lasotta Stellung zur Hizmet-Bewegung genommen. Das Papier ist noch immer im Internet zu finden. Darin steht: „Einige frühere Äußerungen Fethullah Gülens sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.“ Allerdings lägen keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Gülen-Bewegung gezielt Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolge.

Mehr Klarheit verlangte auch Grünen-Chef Cem Özdemir Anfang des Monats von der Bewegung. Er forderte sie auf, Auskunft über die Tätigkeit ihrer Organisationen und Vereine in Deutschland zu geben. «Die Gülen-Bewegung muss selbst Klarheit schaffen, was sie eigentlich ist, eine islamisch-konservative Glaubensgemeinschaft, ein missionarisches Karrierenetzwerk oder eine islamistisch-politische und letztlich radikale Bewegung», sagte Özdemir der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung».dpa/gg