Der Grabstein des Kinderschrecks „Schlappohrle“ ist rot. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Greta Gramberg

Wer heute an der Deponie Weißer Stein vorbeifährt, übersieht leicht, dass an der Wegekreuzung zwischen Plochingen, Aichschieß, Baltmannsweiler und Esslingen tatsächlich ein weißer Grabstein steht mit der Aufschrift „Weisser Stein“. Nicht aber Willi Stuhler. Der alteingesessene Plochinger, Jahrgang 1949, ist in seiner Kindheit nur ungern über die Kreuzung mitten im Wald gegangen. Denn er fürchtete den unruhigen Geist desjenigen, der unter diesem Stein begraben liegen soll: dem „Schlappohrle“. Denn in Plochingen fragt man nicht: Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Die Plochinger haben ihre eigenen Dämonen.

Stuhlers Mutter, die ebenfalls in Plochingen aufgewachsen war, hat ihrem Sohn immer erzählt, wenn ein Junge nicht brav sei, müsse man nur hoch in den Wald, das „Schlappohrle“ rufen und sagen, welches Kind er holen solle. „Da hat die Drohung schon ausgereicht, dass man brav wurde“, sagt Willi Stuhler. Von den Eltern alleine oben im Wald zurückgelassen zu werden, das wollte er nicht.

Was es mit dem „Schlappohrle“ auf sich hat, erzählte Willi Stuhlers Mutter ihm aber nie genau. Sie habe nur erzählt, unter dem Weißen Stein wurde einer begraben, der kein Christ sei, keine Ruhe gebe und lange Ohren habe. Der frühere Berufschullehrer und heutige Dozent an der Dualen Hochschule weiß inzwischen aber, woher die Drohung stammt: Aus zwei Volkssagen, die in Manfred Reiners Buchreihe „Plochinger Wegspuren“ dokumentiert ist.

Reiners Recherchen zufolge besagt die erste, dass eines Tages bei einem Hochwasser eine männliche Leiche am Neckarknie angeschwemmt worden ist. Die Plochinger wollten den Unbekannten nicht auf ihrem Kirchhof begraben, da er ja mit der vernichtenden Flut, dem Bösen, gekommen war. Also schleppte ein Mann ihn in einem Weidenkorb auf dem Rücken in den Schurwald hoch. „Der Tote im Rückenkorb traktierte und plagte seinen Träger jedoch auf der ganzen Strecke und zog ihn andauernd so kräftig an den Ohren, dass dieser von da ab mit großen Schlappohren durchs Leben gehen musste“, erklärt Reiner in seinem Buch den Namen des Dämons.

An der Kreuzung der Wege nach Plochingen, Aichschieß, Baltmannsweiler und Esslingen versuchte man, den Untoten drei Mal zu begraben, doch die Leiche lag am nächsten Tag immer wieder neben der Straße. „Erst als man den großen weißen Stein auf sein Grab legte, blieb er unten.“ Doch noch immer, heißt es in den „Plochinger Wegspuren“, komme der böse Geist heraus, wenn man ihn nachts rufe, ängstige Wanderer und springe ihnen auf den Rücken. Die zweite Variante des „Schlappohrles“ spricht dagegen von einem brutalen Herzogsknecht mit Schlappohren, den die Plochinger ermordeten und am „Weißen Stein“ verscharrten.

Willi Stuhler, der mittlerweile Gästeführer der Stadt Plochingen ist, erzählt den Besuchern heute lieber die erste Variante, die aus der Ferne betrachtet eigentlich eher komisch als furchteinflößend ist. Seinen Töchtern habe er solche Geschichten aber nie erzählt, er wollte ihnen keine Angst mit solchen Drohungen machen. „Ich habe das für blöd gehalten“, sagt Stuhler. Allerdings habe seine Mutter auch hin und wieder auf die Mädchen aufgepasst, von denen eines eine Zeit lang Angst hatte und nachts nicht alleine sein wollte. „Jede Wette, dass da meine Mutter dahinter gesteckt hat“, sagt Stuhler. Denn in Plochingen ängstigte nicht nur das „Schlappohrle“ die Kinder. Wer nicht brav war, konnte auch vom Nachtkrabb geholt werden oder samt der Brücke in der ersten Kurve des heutigen Pfostenbergwegs einstürzen.

Doch nicht alle hatten Bammel: „Der weiße Stein ist oftmal angemalt worden“, erzählt Willi Stuhler, der das damals für Jugendstreiche hielt. Auch heute ist das „Schlappohrle“ nicht für jedes Kind ein Schreck. Derzeit trägt der weiße Stein rot.