Für Diebesgut im Wert von knapp über 20 Euro muss ein Mann für vier Monate ins Gefängnis. Er war trotz Videoaufnahmen und Zeugenaussagen nicht geständig oder einsichtig. Seine Lebensgefährtin lieferte sich eine lautstarke Auseinandersetzung mit der Richterin.

Von Philip Sandrock

Dem jungen Mann wurde vorgeworfen, im Dezember in einem Nürtinger Einkaufsmarkt mehrere Dinge gestohlen zu haben, unter anderem SIM-Karten-Adapter für Mobiltelefone, Displayschutzfolien und eine Wurst. Gesamtwert der Beute: 21,36 Euro.

Als Asylbewerber war der Angeklagte vor einigen Jahren aus Inguschetien oder Tschetschenien nach Deutschland gekommen. Beide Kaukasusrepubliken sind Teil Russlands und damit ist der Angeklagte russischer Staatsbürger. Er sei Ingusche, sagte der Mann, der ohne Verteidiger zum Prozess erschienen war. Eine Dolmetscherin stand ihm zur Seite. In den Gerichts- und Polizeiakten ist der Mann mit drei verschiedenen Geburtsjahren vermerkt. In der Verhandlung gab er zu Protokoll, er sei 22 Jahre alt. Er ist Vater eines kleinen Kindes und wohnt mit seiner Lebensgefährtin und einem weiteren Kind unter einem Dach.

Wovon er denn lebe, wollte die Richterin wissen. „Ich bekomme kein Geld, wir überleben einfach“, sagte er. Da mischte sich aus den Zuschauerreihen die Lebensgefährtin ein, die Russisch und Deutsch spricht. Er habe seit dem Umzug vor zwei Monaten kein Geld vom Amt mehr bekommen. Die Familie lebe von ihrer Sozialhilfe.

Die Tatvorwürfe seien eine Lügengeschichte, sagte der Angeklagte. Er habe in dem Supermarkt nichts gestohlen. Der Ladendetektiv und die Polizei hätten ihn nicht einmal durchsucht. Wie solle man da wissen, ob er etwas gestohlen habe. Das könne sie bezeugen, sagte seine Lebensgefährtin, sie sei schließlich dabei gewesen. „Dann sind Sie eine Zeugin und warten bitte vor der Tür“, sagte die Richterin. Die Frau schnappte sich ihre beiden Kinder und verließ den Saal, nicht ohne beim Hinausgehen den Detektiv, der als erster Zeuge geladen war, zu beschimpfen.

Video zeigt Diebstahl

Der Detektiv erzählte eine andere Geschichte: Er hatte den Mann mit den Überwachungskameras beobachtet und gesehen, wie er in der Elektronikabteilung einige Gegenstände eingesteckt habe. Außerdem habe er noch eine Wurst in die Jackentasche gesteckt. Er habe den Angeklagten, der mit Freundin und einem Bekannten im Markt war, an der Kasse beobachtet und abgewartet, ob er die Gegenstände bezahle. Das habe er nicht getan, deshalb habe er das Trio zusammen mit einem Markt-Mitarbeiter gebeten, in sein Dienstzimmer zu gehen. Dort habe er den Angeklagten mit dem Video konfrontiert und ihn gebeten, die Taschen zu leeren. Der Angeklagte habe die gestohlenen Gegenstände auf den Tisch gelegt und die Tat auf einem Formular eingeräumt. Doch der Angeklagte blieb bei seiner Version: „Weder der Detektiv noch die Polizei hat etwas gefunden“.

Man könne auch seine Freundin als Zeugin vernehmen, sagte die Staatsanwältin - allerdings habe sie kein Zeugnisverweigerungsrecht und müsse, im Gegensatz zum Angeklagten, vor Gericht die Wahrheit sagen. „Wenn Ihre Freundin uns die gleiche Geschichte auftischt wie Sie, und wir Ihre Version nicht glauben, dann bekommt sie ein Problem.“ Dann werde sie sofort ein Strafverfahren wegen Falschaussage einleiten. „Der Detektiv lügt“, gab die Befragte zu Protokoll. „Der Detektiv darf nicht lügen. Sie dürfen auch nicht lügen“, erwiderten die beiden Juristinnen unisono. Die Zeugin ließ die Vorsitzende selten ihre Fragen zu Ende stellen, hielt das Kleinkind im Zeugenstand im Arm, während das größere der Kinder zwischen Anklagebank und Anklägerin hin und her wuselte. Irgendwann kippte die Stimmung. Richterin und Zeugin wurden lauter und schrien. Dann wurde es der Richterin zu bunt und verwies die Zeugin des Saals.

Zehn Vorstrafen wegen Diebstahls in den vergangenen acht Jahren und ein Verfahren, das eingestellt wurde, stehen in der Akte des Angeklagten. Die Staatsanwältin hatte keinen Zweifel an der Schuld des Angeklagten und forderte fünf Monate Haft ohne Bewährung.

„Ich habe nicht die geringsten Zweifel daran, dass der Detektiv die Wahrheit gesagt hat“, sagte die Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Alle Beweise sprächen gegen den Angeklagten. Eine Bewährungsstrafe komme bei dem Vorstrafenregister nicht infrage. Ihr Urteil: vier Monate Gefängnis.