Menschenleer, grau und doch irgendwie schön: die eigentümliche Ästhetik älterer Industriebauten zeigt sich beim Rundgang durch das derzeit ruhende HKW 1. Zu sehen sind unter anderem der Leitstand. Fotos: Gramberg Quelle: Unbekannt

Von Greta Gramberg

Radau ist ausgebrochen, als vor wenigen Wochen bekannt wurde, dass der Energieversorger EnBW das Ältere seiner zwei Steinkohlekraftwerke am Standort Altbach/Deizisau aufgeben will. Dagegen ist es im Block selbst wegen eines Defekts schon seit Monaten still. Solange er repariert wird, ist das Heizkraftwerk 1 im Ruhemodus – ein Ausblick auf das, was Dauerzustand wird, sollte die Bundesnetzagentur es als systemrelevant einstufen. Dann muss die EnBW es als Reserve vorhalten, für Zeiten, in denen die erneuerbaren Energieträger den Bedarf nicht abdecken können. Aber was bedeutet das in der Praxis? Antworten gibt es in der Stromfabrik.

Der hohe Raum im Erdgeschoss des Kesselhauses ist menschenleer, bis auf die kleine Pressegruppe, die gerade eingetreten ist. Alles ist grau und mit vereinzelten Neonröhren beleuchtet. „Es kann sein, man ist hier zwei Stunden und es läuft niemand vorbei“, sagt Wolfgang Sailer, Leiter der Produktion des Kraftwerkstandortes Altbach/Deizisau. Nur die Kontrollgänge einmal pro Schicht und Störungen rufen Mitarbeiter dorthin, wo aus Kohle Strom und Heizwärme gemacht wird. Ansonsten wird das mit dem Schornstein 250 Meter hohe Kraftwerk 1 vom Leitstand im Verwaltungsgebäude aus gesteuert – auch wenn es läuft.
Seit Oktober 2016 raucht es allerdings nicht mehr aus Schornstein und Kühlturm des Blocks von 1985. Wie vor einem Monat bekannt wurde, will die EnBW das Heizkraftwerk 1, kurz HKW 1, stillegen. Dass es schon jetzt nicht in Betrieb ist, hat damit laut Sailer aber nichts zu tun: Ein Bauteil des Generators sei kaputt und werde derzeit repariert, was noch bis Ende September dauere. Dennoch brummt und summt es an diesem Tag deutlich hörbar im Gebäude: Das ist die Heizung, die den Trakt vor Frost schützen soll und ihn an einigen Stellen mollig warm macht. Es gebe Systeme, die in Betrieb bleiben müssten zum Schutz des Kraftwerkes, erklärt Gästebetreuer Ralf Pietzsch, der die Gruppe an diesem Tag über das Gelände führt. „Im Betrieb ist es aber deutlich lauter“, sagt Wolfgang Sailer mit Blick auf die stillen Kohlemühlen, vor denen er steht.
An diesem Morgen begegnet die Führung durch Zufall doch Mitarbeitern: „Wir haben gerade eine Sicherheitsbegehung“, sagt einer der vier Männer. „Das Thema Arbeitssicherheit ist bei der EnBW groß geschrieben, um Unfälle zu vermeiden“, hakt Gästeführer Pietzsch ein und verweist auf die grünen und weißen Helme, die auch die Gruppe beim Pressetermins tragen muss. Dann geht es am unteren Ende des Kessels vorbei in den Lift.
In 17 Metern Höhe hält er – die Meterzahl steht auch an der Anzeige im Aufzug, statt Etagenzahlen. Das liege daran, dass die Stockwerke unterschiedlich hoch seien, erklärt Pietzsch. Außerhalb der Kabine ist es wesentlich leiser als im Erdgeschoss, nur ein Klappern ist zu hören. Sind das Arbeiter? Nein, nur Dampfschläge in der Gebäudeheizung, sagt Wolfgang Sailer. Es geht wieder am Kessel vorbei – der übrigens nicht rund ist, wie ein Kochtopf, sondern eckig. In ihm sind 410 Kilometer Rohre verbaut, wie Ralf Pietzsch weiß. Durch sie fließt das Wasser, das wegen der Hitze verdampft, die im Kessel durch das Kohlefeuer entsteht.
Der Besucherbetreuer führt die Gruppe aus dem Grau des Kesselhauses in einen Raum in leuchtendem Weiß und Orange. Es ist das Maschinenhaus, „das Herzstück des Stromerzeugungsprozesses“, sagt Wolfgang Sailer. Denn hier wird der Dampf in Strom verwandelt. Drei vom Dampf in Bewegung versetzte Turbinen treiben über eine Welle den Generator an – verdeckt von einer länglich, gewölbten, orange farbenen Metallhülle. In ihm fehlt derzeit aber das defekte Bauteil, ein 75 Tonnen schwerer Rotor, wie Wolfgang Sailer erklärt.
Zurück im Aufzug fährt Ralf Pietzsch die Gruppe auf 97 Meter Höhe. Der Blick auf den 90 Meter Hohen Kessel zeigt, dass dieser nicht auf dem Boden steht, sondern von der Decke herabhängt – wegen der Wärmeausdehnung, erklärt der Besucherbetreuer. Beim Blick vom Gebäudedach auf 100 Metern macht Wolfgang Sailer deutlich, dass die Neckarwerke, Vorgänger der EnBW in Altbach, einst einige Auflagen erfüllen mussten, um die Steinkohleblöcke so nahe an den Wohnbereichen Altbachs errichten zu dürfen: Die Hybridkühltürme sind mit rund 50 Metern Höhe vergleichsweise niedrig und es kommen so gut wie keine Schwaden heraus. Statt des Kamineffekts höherer Varianten sorgen je 30 Gebläse für die Abkühlung der 80 000 Liter Wasser, die pro Sekunde reinrieseln. Und auch bei der Optik hat man Rücksicht genommen. „Es ist einer der schönsten Kohlekraftwerksstandorte“, findet Ralf Pietzsch.
Warum will die EnBW das HKW 1 also stilllegen? Welchen Unterschied gibt es zum benachbarten Block 2 von 1997, der in Betrieb bleibt? Es seien betriebswirtschaftliche Überlegungen. „Rein von der Technik her unterscheiden sich die Kraftwerke kaum“, sagt Sailer. HKW 2 sei komplexer im Aufbau, moderner, entspreche höheren Umweltschutzanforderungen und habe einen höheren Automatisierungsstand. Deswegen ist der Wirkungsgrad des neueren Meilers, das Verhältnis von eingesetzter zu produzierter Energie, zehn Prozent höher. Genaue Geschäftszahlen verrät die EnBW nicht.
500 Meter weiter im Verwaltungsgebäude sind schließlich weitere Mitarbeiter des HKW 1 anzutreffen: Hier ist die zentrale Leitstelle für beide Blöcke: Vor einem großen Bildschirm mit schwarzem Hintergrund überwachen zwei Mitarbeiter und ein Auszubildender das HKW 2, nur ein Mann schaut vor einer hellen Leinwand, dass im älteren Block keine Störungen auftreten. Die vier Männer einbezogen, die im Kraftwerk ihre Begehung gemacht haben, ist die Differenz zu den insgesamt 70 Angestellten, die Block 1 zugeordnet werden, riesig.
Was machen also all die anderen, solange das Bauteil repariert wird und wenn das Kraftwerk künftig oft einfach nur im Stand-by-Betrieb ist? „Arbeit gibt’s immer genug“, sagt Wolfgang Sailer. Gerade würden Instandhaltungsarbeiten erledigt, für die sonst weniger Zeit sei, Überstunden abgebaut und einige Fachleute helfen an anderen EnBW-Standorten aus. So personenscharf auf ein Kraftwerk runterrechnen könne man die Belegschaft auch nicht, sagt Pressesprecherin Dagmar Jordan: Es gebe eine zentrale Instandhaltung und Verwaltung für den ganzen Standort. „Also momentan braucht man genauso viele Leute wie sonst auch.“
Es sei wie bei der Feuerwehr, fasst Ralf Pietzsch die Situation plastisch zusammen: Die Mannschaft ist bereit, um im Brandfall auszurücken. Wenn der nicht eintritt, ist sie trotzdem da. Dass künftig der Alarmknopf gedrückt wird und alle Mitarbeiter ins Kraftwerk rennen müssen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, verneint Dagmar Jordan aber. Vielleicht brauche man etwas mehr Leute am Leitstand pro Schicht. Je nach Betriebstemperatur könne das Kraftwerk aus dem Standby-Modus in einer bis fünf Stunden hochgefahren werden.

Rück- und Ausblick

Das Jahr hat mit vielen Aufregern rund um die zwei Steinkohlemeiler am Neckar begonnen. Ende Januar ist in Altbach und Deizisau bekannt geworden, dass die EnBW von den beiden Standortgemeinden Steuerrückzahlungen in Millionenhöhe erwartet. Für die beiden Kommunen war da die Nachricht einen Monat später, dass das Unternehmen das HKW 1 stilllegen will, das kleinere Übel.

Schließlich ist es wahrscheinlich, dass auch dieser Block vom Gesetzgeber als systemrelevant eingestuft wird. Nachdem nach der EnBW-Geschäftsführung auch der Aufsichtsrat für die Stilllegung gestimmt hat, hat der Konzern kürzlich den Antrag bei der Bundesnetzagentur eingereicht. Er rechnet damit, dass drei Monaten nach der Einreichung die Entscheidung steht – also Anfang Juli. Ab dann würde die Bundesnetzagentur die Betriebskosten für das HKW 1 übernehmen, sollte es als Reserve für Energieengpässe dienen. Falls die Entscheidung dagegen negativ ausfällt, kann die EnBW den Meiler ein Jahr nach Antragstellung aufgeben.