Quelle: Unbekannt

Brexit, Terroranschläge in Frankreich, Flüchtlinge vor den Toren Europas, gute Wahlergebnisse für rechtspopulistische Parteien, TTIP und CETA - wenn in unseren Tagen Nachrichten über Europa durch die Medien kursieren, dann sind es meist beunruhigende, ja erschreckende, mindestens irritierende, selten gute. Europa scheint zu einem Problemfall geworden zu sein, und zwar zu einem übergroßen, unüberschaubaren, vielfachen Problemfall.

Europa ist auch, und genau betrachtet noch viel mehr, der Ort erfüllter Hoffnungen: Hier führen mehr Menschen als andernorts ein menschenwürdiges Leben ohne Existenzangst; hier haben sich ehemalige Erzfeinde zusammengetan und führen seit Jahrzehnten ein Leben ohne Krieg; hier sind Grenzen offen und Menschen können einander uneingeschränkt begegnen, sich in der Vielfalt der Kulturen gegenseitig bereichern und - ja, das auch! - freien Handel miteinander treiben, von dem viele - nicht zuletzt wir Deutsche - profitieren. Kein Wunder, dass Europa für Millionen Menschen der Ort ihrer Träume ist, für den sie lange, gefahrvolle Wege auf sich zu nehmen bereit sind.

Europa, Problemfall und Paradies. Und wir leben mittendrin. Es kann uns nicht gleichgültig lassen. Ich sage es gleich: Ich bin ein Europa- Freund. Ich gehöre zu denen, die meinen: Europa als Projekt des Friedens, der Einheit in Vielfalt, des lebenswürdigen Lebens für alle, das ist und bleibt ein lohnendes Projekt. Doch ich habe den Eindruck: Europa überfordert. Viele Politiker, die dann anscheinend herumlavieren und „Brüssel“ einen schlechten Ruf verschafft haben. Viele Bürger, die ganz zufrieden sind, wenn alles gut funktioniert und sie in ihrem überschaubaren Lebensraum nicht gestört werden. Andere, die politisch mitdenken und sich nach ihren Möglichkeiten für das Gemeinwesen einsetzen, aber gar nicht wissen, wo anfangen. Überforderung, real oder gefühlt, tut nicht gut. Sie bewirkt Angst oder Fatalismus, erschöpftes Ignorieren oder selektive Wahrnehmung: Wenn ich vor einem Teil der Wirklichkeit die Augen verschließe, wird sie wieder überschaubar. Dann beruhigen Grenzen auf einmal wieder, obwohl sie doch die Freiheit einschränken.

Ich frage mich, ob wir diese selektive Wahrnehmung „nur“ bei den schlimmen Tatsachen pflegen. Vielleicht haben wir allzu lang auch viel Gutes ausgeblendet. Auch Europa-Freunde lieben die Überschaubarkeit. Wer war denn schon mal in Polen, in der Slowakei, gar in Rumänien im Urlaub? Wer fragt, welche Schicksale hinter den Bettlern aus Osteuropa in der Bahnhofstraße stehen? Wie es der polnischen Pflegekraft zu Hause geht? Den Griechen? Warum haben wir keinen Europafeiertag? Wer kennt seine Europa-Abgeordneten? Spricht mit ihnen? Warum tun sich Städtepartnerschaftsgruppen so schwer, neue Mitglieder zu finden?

Für Europa gilt, was fürs ganze Leben gilt: Das Gute geschieht nicht von selbst. Die Dinge laufen lassen, genügt nicht. Ein gutes Projekt wird nur zum Erfolg, wenn sich Menschen dafür stark machen. Und sich von Rückschlägen und Gegnern nicht entmutigen lassen. Das braucht es: Menschen, die der gefühlten Überforderung nicht trauen, sondern immer wieder aufs Ganze schauen, auch wenn das etwas kostet. Weil sie begeistert sind von Frieden und Freiheit. Also, Freunde Europas: Outet Euch, redet mit und handelt!

Stefan Möhler ist katholischer Pfarrer in Esslingen.