Quelle: Unbekannt

Wenn eine Fantasiekonstruktion als geschichtliche Tatsache hingestellt wird, dann stimmt etwas nicht. Wenn jemand Abgrenzung oder gar Ausgrenzung anderer Menschen christlich begründet, dann ist Vorsicht geboten. Mit entsprechender Vorsicht ist die Rede vom christlichen Abendland zu gebrauchen. Das scheinbar bedrohte und deshalb zu rettende christliche Abendland ist eines aus der Vielzahl von Bedrohungsszenarien, von denen wir uns anstecken und ängstigen lassen können. Das Angebot an allgemeinen Untergangsszenarien ist groß: zum Beispiel Flüchtlingswelle, Islamisierung, Überfremdung, neuerdings sogar Umvolkung.

Wir haben aber nicht nur die Wahl zwischen den verschiedenen Angst-Szenarien. Wir können unseren Verstand benutzen und jeweils hinterfragen, was diese Parolen eigentlich meinen und welchen Hintergrund sie haben. Schon ein paar einfache Fragen tragen zur hilfreichen Differenzierung bei. Was ist das, christliches Abendland, warum und für welchen Zweck benutzt jemand den Begriff? Von wem wird er gebraucht? Was ist das Christliche daran?

Ein kurzer Blick in die Geschichte ist erhellend. Was als scheinbar einheitliches christliches Abendland beschworen wird, hat es in der Realität nie gegeben. Es ist vielmehr eine „Wunschvorstellung von einer einheitlichen Geschichte“, sagt der Journalist Uwe Bork. Der Begriff Abendland wurde zur Kennzeichnung ehemaliger römischer Westprovinzen vor etwa 1500 Jahren gebraucht. Er taucht immer wieder auf, wenn es darum geht, sich gegen etwas beziehungsweise gegen jemand abzugrenzen. So grenzten sich die westlichen lateinischen Christen gegen die Schwestern und Brüder aus der Ostkirche als christliches Abendland ab, obwohl sie beide zur Gemeinde Jesu gehörten. Zwischendurch bekriegten sich innerhalb dieses sogenannten christlichen Abendlandes Katholiken und Protestanten auf blutigste Weise.

In der Romantik grenzte man sich als Abendland gegen den islamischen Orient ab. Karl der Große musste als Begründer einer einheitlichen germanisch-christlichen Kultur herhalten, mehr Phantasie als Wirklichkeit. Oswald Spengler träumte von einer neuen Rasse, die im abendländischen Reich zusammenlebt. Daran schloss sich der Nationalsozialismus an, der den Begriff ohne das Attribut christlich traktierte. Später unter Konrad Adenauer war das christliche Abendland die Gegenwelt zum kommunistischen Ostblock. Und heute? Wo heute dieser Begriff benutzt wird, da soll eine Gefahr beschworen werden. Es wird suggeriert: Wir sind Teil eines einheitlichen Abendlandes, das von außen, vor allem von Muslimen, bedroht wird. Damit wird ein emotional aufgeladener Gegensatz konstruiert: Wir, die Christen des Abendlandes, gegen die Muslime, die nicht dazugehören.

Die Jesusbotschaft wird zur Abgrenzung gegen Fremde benutzt Der Theologe Manfred Becker-Huberti hat recht, wenn er den Begriff christliches Abendland als „Kampf- und Ausgrenzungsbegriff“ bezeichnet. Er wird derzeit vor allem in Abgrenzung zum Islam benutzt. Was ist daran christlich? Ist Abgrenzung oder gar Ausgrenzung anderer Menschen christlich? Das Christliche wird ins Gegenteil pervertiert: von der Nächstenliebe zum Nächstenhass, von der Barmherzigkeit zur gnadenlosen Ausgrenzung, von der Reich-Gottes-Botschaft zur nationalistischen Ideologie. Bleibt noch die Frage: Warum diese Angst vor dem Fremden, speziell vor dem Islam? Wenn das Christentum in unserem Land schwächelt, ist doch daran nicht der Islam schuld.

Etwa 60 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik gehören einer christlichen Gemeinschaft an. Sind diese 60 Prozent so kraftlos, dass sie vor der muslimischen Minderheit von etwa fünf Prozent Angst haben müssen? Wir brauchen keine Aufrüstung gegen andere Religionen. Wir brauchen eine ehrliche kritische Selbstreflexion über den eigenen Glauben, die eigene Identität als Christen und die eigene Ernsthaftigkeit des Glaubens. Und wir brauchen einen friedlichen Dialog zwischen den Religionen.

Josef Birk ist Pastoralreferent i. R.