Alltagsbegleiter, Pflegekräfte, Angehörige und Ehrenamtliche teilen sich die Verantwortung - nach diesem Prinzip funktioniert das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft „Lichtblick“ im Scharnhauser Park. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Harald Flößer

Ein Familienangehöriger ist so gebrechlich, dass er ohne fremde Hilfe im Alltag nicht mehr zurecht kommt. Wenn er Glück hat, wird er - vielleicht auch mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes - weiter zu Hause versorgt. In vielen Fällen schafft das die Familie aber nicht. Unausweichliche Folge: Ohne Pflegeheim geht es nicht mehr. In vielen Kommunen haben bürgerschaftlich getragene Initiativen einen dritten Weg gefunden: ambulant betreute Wohngemeinschaften, in denen es sehr familiär zugeht und in denen nicht die Pflege, sondern die gemeinsame Alltagsgestaltung im Mittelpunkt steht.

Mit der Gruppe „Lichtblick“ gibt es diesen Ansatz auch im Nachbarschaftshaus im Scharnhauser Park - ein erfolgreiches Modell, das sich seit vier Jahren bewährt und immer mehr Nachahmer findet. „Allein in den vergangenen zwei Jahren gab es 37 Anfragen von anderen Initiativen“, berichtet Peter Stapelberg. Zusammen mit Gerhard Pietsch ist er Vorsitzender des Vereins „Lichtblick“, der diese besondere Wohngemeinschaft für neun Menschen mit Demenz 2012 ins Leben gerufen hat.

Mitarbeit zahlt sich aus

„Wohnortnah, familiär, in geteilter Verantwortung“ - so wirbt der Verein für die ambulant betreute Wohngemeinschaft im Nachbarschaftshaus. Genau diese Vorteile schätzt Hannelore Apostel. Die 68-Jährige hat mit „Lichtblick“ für die Betreuung ihrer dementen Mutter (92) den für sie idealen Weg gefunden. Ideal, weil in der kleinen Gruppe eine sehr familiäre Atmosphäre herrscht. „Meine Mutter ist nicht allein“, sagt Apostel. Als weitere große Vorteile sieht die 68-Jährige, dass sie sich selbst in die Betreuung einbringen kann und als Angehörige einem Gremium angehört, in dem alle wichtigen Entscheidungen für das Zusammenleben der Gruppe getroffen werden. Ganz gleich, ob es um Neuanschaffungen, Reparaturen oder Dienstpläne geht. „Alle Angehörigen gestalten mit“, nennt Gabriele Beck, die Chefin der Leitstelle für ältere Menschen in Ostfildern, als prägendes Organisationsprinzip. Bis zu 20 Stunden pro Monat können Angehörige in der Wohngemeinschaft mitarbeiten. Außer dem guten Gefühl, sich aktiv um das Wohlbefinden der Bewohner kümmern zu können, erhalten sie auch eine finanzielle Entschädigung. Sprich, wer mitarbeitet, kann die private Zuzahlung verringern. Hannelore Apostel, die auch die Sprecherin der Angehörigen ist, reduziert die monatliche Pauschale für die Betreuung ihrer Mutter dadurch von 2080 auf 1880 Euro.

Geteilte Verantwortung ist ein wesentliches Element der Wohngemeinschaft. Da sind 18 hauptamtliche Alltagsbegleiter, die sich die Dienste rund um die Uhr teilen. Hinzu kommt die Mitarbeit von ehrenamtlichen Helfern und von den Angehörigen. Eine wichtige Säule der Betreuung ist ein Pflegedienst. Im „Lichtblick“ ist das die Diakoniestation Ostfildern. Deren Pflegemitarbeiter kommen dann in die Wohngemeinschaft, wenn sie gebraucht werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum normalen Pflegeheim.

Begleitung bis zum Tod

„Zu einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft kann ich jedem nur raten“, sagt Hannelore Apostel. Sie habe in den vergangenen vier Jahren rundum positive Erfahrungen gemacht. Ohne „Lichtblick“ hätte sie ihre Mutter irgendwann in ein Pflegeheim bringen müssen. Praktisch ist für sie, dass sie gar nicht weit entfernt im Scharnhauser Park wohnt.

In der etwa 400 Quadratmeter großen und barrierefreien Wohnung im Nachbarschaftshaus leben derzeit acht Frauen und ein Mann. Wegen Todesfällen hat es schon mehrere Wechsel gegeben. Vier Bewohner habe man bereits mit in den Tod begleitet, berichtet Vereinsvorsitzender Peter Stapelberg. Denn auch das gehöre zu dieser besonderen Lebensform: Alle sind füreinander da - bis zum Schluss.

„Die Chance, im eigenen Stadtteil alt zu werden“

Entwicklung: In Deutschland leben derzeit etwa 1,4 Millionen Menschen, die unter Demenz leiden. Wegen der demografischen Entwicklung wird ihre Zahl weiter steigen. In den nächsten 15 Jahren werde sich die Zahl der Hochbetagten, sprich der über 85-Jährigen, verdoppeln, berichtet Altenhilfeplanerin Gabriele Beck aus Ostfildern.

Ergänzendes Element: Ambulant betreute Wohngemeinschaften werden stationäre Pflegeheime nie ersetzen können, da sind sich Fachleute einig. Aber sie seien eine „sehr gute Ergänzung der Versorgungslandschaft“, so Beck.

Neue Kultur der Sorge vor Ort: „Ambulant betreute Wohngemeinschaften bieten die Chance, im eigenen Stadtteil alt zu werden“, erklärt Peter Stapelberg, der Vorsitzende des Ostfilderner Vereins „Lichtblick“. Dahinter stecke die Idee: „Die Alten bleiben im Dorf oder im Quartier und wir übernehmen miteinander Verantwortung.“ Die Einbindung von bürgerschaftlichem Engagement und die Verankerung im Gemeinwesen seien wesentliche Bausteine beim Aufbau und beim Betrieb ambulant betreuter Wohngemeinschaften. Es gehe darum, eine „neue Kultur der Sorge vor Ort“ anzustoßen.

Qualitätsstandards definieren: Das Thema sei in der Politik noch viel zu wenig präsent, meint Stapelberg. Deswegen engagiert er sich zusammen mit Gabriele Beck auch in der Landesarbeitsgemeinschaft ambulant betreuter Wohngemeinschaften Baden-Württemberg (Labewo). Es gehe darum, kleine Gründernetzwerke zu unterstützen. „Wir wollen die Bürger einladen, sich einzubringen und ihnen klar machen: Vielleicht profitiert ihr auch selbst einmal davon“, sagt Gabriele Beck. Ein wesentliches Ziel der Arbeitsgemeinschaft sei, Qualitätsstandards zu definieren.

Statistik: Deutschlandweit gibt es derzeit etwa 3200 ambulant betreute Wohngemeinschaften. In Baden-Württemberg sind es 45. 20 sind in Planung. Zu den Pionieren auf diesem Gebiet zählt die Wohngemeinschaft „Gemeinsam statt einsam“ in Kirchheim, die bereits vor rund zehn Jahren gegründet wurde.