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Esslingen – Sandros Leben ist leichter geworden, jetzt, wo er sich nicht mehr all seine Lügen merken muss. Es zehrt einen auf Dauer aus, sich Geschichten einfallen zu lassen, sich an sie zu erinnern und sich zu merken, wem man welche erzählt hat. Sandro kennt diese Anstrengung. Er war heroinabhängig, spielsüchtig und alkoholabhängig. Um seine Sucht zu finanzieren, belog er Freunde, Familie, Arbeitgeber – und nicht zuletzt sich selbst.

Vor einem sitzt ein gepflegter Mann Mitte 40 in blauem Hemd, mit kurzen braunen Haaren und Brille. Er strahlt Selbstbewusstsein aus. Während er spricht, blickt er seinem Gegenüber in die Augen; von seiner Vergangenheit, seinen Fehltritten erzählt er offen. Manchmal lacht Sandro ein fast schon bitteres Lachen, wenn er über ein absurdes Verhalten aus seiner Suchtzeit erzählt. Etwa, wenn er berichtet, wie ihn ein Taxi ins Krankenhaus gebracht hat („Kein Geld gehabt, aber mit dem Taxi fahren“). Wenn Sandro von seiner Vergangenheit spricht, benutzt er stets die Worte „saufen“ statt „trinken“ und „zocken“ statt „spielen“.
Seit zwei Jahren ist er nun trocken und spielfrei, besucht regelmäßig die Selbsthilfegruppen bei den Freundeskreisen für Suchtkrankenhilfe Esslingen und betreut dort mittlerweile sogar die Spielergruppe. Lügen muss er sich jetzt keine mehr ausdenken.

Sandros Geschichte beginnt wie die vieler Abhängiger mit einem schwierigen Freundeskreis, Neugier und Unzufriedenheit mit sich selbst. Heroin brachte ihn zwar zuerst in eine Entzugsklinik. Es wurden aber vor allem der Alkohol und die Spielautomaten, die sein Leben vehement beherrschten – und es ihn am 9. März 2015 um ein Haar gekostet hätten.

Los ging alles bereits mit 14, 15 Jahren, als er seine erste Bierdose geöffnet hatte. „Ich war immer bei jedem Scheiß dabei, weil ich immer auffallen wollte. Allerdings wurde mir das alles erst später bewusst.“ In der Clique blieb es nicht bei Bier: Auf Alkohol und Joints folgten Kokain, LSD und Tabletten. Dann kam das Heroin. „Das hat mir eigentlich von allem am Besten gefallen, weil ich mich damit am meisten verstecken konnte.“ Was folgte, ist der wohl typische Bergab-Weg eines Heroinabhängigen: Sandro kam öfter zu spät zur Arbeit, war müde und unkonzentriert. Und da bald das Geld für das Heroin ausging, musste er es sich auf andere Art beschaffen: Er und Freunde fälschten Rezepte für das Schlafmittel Rophynol und den Heroin-Ersatzstoff Codein, stahlen außerdem Geldbeutel aus Umkleidekabinen. Das ging nicht lange gut: 1996 wurde der damals 25-Jährige von der Polizei gefasst.

Sandro blieb die Wahl zwischen Gefängnis und Entzug mit Therapie. „Und weil ich ein Angsthase war, machte ich meinen ersten Entzug im Schwarzwald.“ Später folgte eine Therapie in München. Dort lernte er erstmals, „dieses Auffallen-Wollen, dass ich schon immer hatte, in etwas Positives umzuwandeln“ – indem er sich aus Trotz der Gruppe gegenüber besonders öffnete und ihnen „seine ganze Lebensgeschichte antat. Von Heroin und den anderen Drogen habe ich von da an die Finger gelassen. Die habe ich auch nicht mehr gesucht.“ Was Sandro aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, war die Gefahr der Suchtverlagerung: Dabei verschieben Betroffene ihre Abhängigkeit auf andere Suchtmittel, die dann die psychische Funktion der alten Droge übernehmen. Ein Alkoholiker raucht beispielsweise mehr oder beginnt Medikamente zu nehmen. Oder – wie in Sandros Fall – beginnt ein ehemals Heroinabhängiger zu trinken und spielen.

„Nach zehn Monaten Therapie und fünf Monaten Nachsorge war für mich klar, erstmal einen Saufen zu gehen“, erzählt er. Das Spielen am Automaten gehörte da schnell dazu. Es war der Anfang vom Existenz-Ende. „Es ging ratzfatz, und ich war abhängig.“ Dabei hatte sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich gerade alles gut entwickelt: Sandro blieb erfolgreich dem Heroin fern, zog mit seiner Freundin nach Sindelfingen in eine gemeinsame Wohnung, hatte gerade seinen Führerschein gemacht.

Doch das Zocken fraß Geld in rasanter Geschwindigkeit. „Durch die Zockerei war nie Geld im Haus. Wir konnten nie in den Urlaub fahren.“ Also begann Sandro zu lügen: Sein Arbeitgeber habe noch kein Geld überwiesen; dann: Die Bank hätte etwas falsch gemacht; oder: Er habe noch eine alte Rechnung begleichen müssen. Kam er wieder nicht nach Hause, behauptete er „das Auto ist liegenblieben“, war er offiziell beim Fußballabend, saß er in Wahrheit in irgendeiner Bar vor dem Spielautomaten. „Irgendwann hatte meine Freundin die Schnauze von all den Lügen voll und mich verlassen“, erzählt er. Dann ging es richtig bergab. „Davor habe ich zwar gezockt, wusste aber, dass ich irgendwann nach Hause, zu meiner Freundin muss. Jetzt hat plötzlich niemand mehr daheim gewartet. Ich hatte also keinen Grund, zu gehen.“

Sandros Schritte führten ihn jetzt schneller in Richtung des 9. März 2015, jenes Tages, der sein Leben änderte. Wegen Alkohols am Steuer verlor er seinen Führerschein, wurde von seiner Position als Geschäftsführer in einem großen Einkaufszentrum herabgestuft, trank aus Frust am Arbeitsplatz und verlor seinen Job komplett. Die Folge: Er konnte keine Miete mehr zahlen, zog in eine kleinere Wohnung, fand kurz darauf wieder eine Anstellungen als Kellner, verzockte aber sein Geld, musste wieder umziehen, landete schließlich in einer WG. Und der Kreislauf ging weiter. Alkohol und Spielen – etwa jedes halbe Jahr zog er um, wechselte den Arbeitsplatz. „Meine finanzielle Lage war miserabel. Ich hatte nie Geld, dafür ständig Sorgen.“ Ob ihm nicht bewusst war, dass er ein Problem hatte? „Niemals gesteht man sich ein, dass man ein Problem hat. Spieler sehen sich gerne in der Opferrolle, sie geben anderen die Schuld.“ Und so wurde die Ex-Freundin zur Verantwortlichen dafür auserkoren, dass er jeden Tag allein in der Bar saß und trank. Und sein Umfeld? Alle hätten von seinen Problemen gewusst, teils auch versucht, ihn vom Spielen und Trinken abzuhalten. „Mich hat das überhaupt nicht interessiert. Viele haben gesagt ‚Sandro, hör auf zu zocken‘ oder mir das Geld weggenommen. Das hat nur das Gegenteil bewirkt, weil der Zocker einfach zocken will.“ Und so log er seinen Arbeitgeber an, um sein Gehalt früher zu bekommen, seine Mutter um Geld für den Automaten zu haben, und Bekannte, um Schulden mit neuen Schulden zu begleichen – alles in dem Wissen, es ja doch nicht zurückzahlen zu können. Stopfte er hier ein Loch, riss er an anderer Stelle ein größeres auf. Sein Schuldenberg türmte sich mittlerweile in eine Höhe von 15 000 Euro.

Und während Sandro erzählt, wie er von einer finanziellen Krise in die nächste taumelte, kommt die Frage auf: Wie kann man sich in so eine ausweglose Lage manövrieren? „Beim Spielen geht es darum, sein Ego aufzubauen. Das Highlight war, wenn ich am Automaten viel Geld rausgeholt habe. Da war ich etwas Besonderes, hatte plötzlich viele Freunde und lud alle zum Trinken ein. Dass ich nicht einmal Geld hatte, um meine Miete zu bezahlen, war in dem Moment egal. Geld ist für den Zocker nichts mehr wert.“ Besonders fatal: „Der Alkoholiker hört irgendwann auf zu saufen, er kann dann nicht mehr. Der Spieler aber eben nicht. Wenn der Geld in der Tasche hat, kann der 24 Stunden zocken.“

Am Morgen des 9. März 2015 wacht Sandro in seinem Zimmer auf, überall liegen ungeöffnete Mahnungen und Rechnungen. „Es war der Neunte, und ich hatte schon fast kein Geld mehr. Da hab’ ich gesagt: Ich kann nicht mehr. So wie die meisten Spieler. Sie denken irgendwann an Suizid, weil sie finanziell mit dem Rücken dermaßen zur Wand stehen. “ Also macht er sich auf den Weg zu einer Brücke in Sindelfingen. Sandro beobachtet dort die vorbeifahrenden Autos, blickt hinunter und denkt: „Jetzt springe ich runter. Dann hab ich keine Sorgen mehr. So einfach ist das.“

Doch so sollte es nicht kommen. Auf der gegenüberliegenden Seite hält ein Busfahrer, der Sandro kennt. Er hupt und ruft: „Kommst du mit?“ Sandro kam mit. Ohne es je erfahren zu haben, hat dieser Busfahrer ein Leben gerettet. Sandro fuhr zu seinem Hausarzt, wo er zusammenbrach und sich noch am selben Tag in die Psychiatrie überweisen ließ. Und so beendete Sandro sein altes Leben wieder mit einer Lüge: Er ging noch ein letztes Mal in seine Stammkneipe, trank dort innerhalb von acht Minuten drei Hefeweizen und bestellte sich ein Taxi. Auf die Frage der Kellnerin, wo er hinfahre, antwortete er: „Zum Flughafen. Ich fahre nach Sizilien, in den Urlaub.“ Das Taxi brachte ihn ins Krankenhaus.

In den folgenden Wochen und Monaten kämpfte sich Sandro wieder durch einen Entzug, gegen seine Ängste und sich selbst. Er sei in dieser Zeit unerträglich gewesen, habe keine Geduld gehabt, „rumgesponnen“, alle beschuldigt, dass es nicht klappe. „Manchmal wusste ich nicht, ob ich mich selbst oder die anderen mehr hasste. Ich konnte dann nichts mehr ertragen, alles hat mich gestört. Ich hatte ja nichts mehr, um mich zu betäuben. Früher konnte ich alles wegsaufen oder mich am Automaten ablenken. Das war das Schwierigste.“
Sandro hat diese schwierige Phase überstanden. Nach vielen Wochen Klinikaufenthalt und Therapie kam er schließlich in die Selbsthilfegruppe für Alkoholabhängige im Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe Esslingen. „Als ich nach der Gruppe für Spieler gefragt habe, hieß es: Wir haben hier keine. Ich sagte: Nein, wir brauchen hier eine.“ Gesagt, getan.

Wie wichtig es ist, mit jenen zu sprechen, die den Suchtdruck kennen, weiß Sandro: Er habe in seiner Klinikzeit viele Therapeuten gehabt. „Ich kam mir vor wie bei Big Brother. Für alles gab es einen Therapeuten. Die waren auch wirklich gut. Das einzige, was mir gefehlt hat, waren Gespräche mit Ex-Usern, mit Menschen, die den Kick kennen.“ In der Selbsthilfegruppe in Esslingen können sich diese nun untereinander austauschen. „Unsere Türen stehen immer offen. Da ist dieser junge Kerl, der erinnert mich an mich – macht sich ständig Gedanken über Sachen, die keine Rolle spielen.“ Mit ihm bespricht er nun regelmäßig dessen Ängste und Sorgen. Das ist für Sandro sehr wichtig: Er kann jetzt andere darin unterstützen, ein spielfreies Leben zu führen. Und noch etwas hat sich verändert: „Seit ich nicht mehr lüge, brauche ich mir nicht mehr so viel zu merken. Diese Kraft kann ich jetzt in mein trockenes, spielfreies Leben stecken.“

Spielsucht – Zahlen und Fakten

Die Zahlen: Man schätzt die Zahl der pathologischen Spieler in Deutschland auf 0,3 bis 0,5 Prozent der Erwachsenen (bis 64 Jahren), Tendenz steigend. 2016 waren 48 Menschen wegen pathologischen Glücksspiels in der Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstelle für Suchtgefährdete, Suchtkranke und deren Angehörige Esslingen (PSB). 93 Prozent davon waren Männer, 7 Prozent Frauen. Fast ein Drittel war zwischen 20 und 29, jeweils 36 Prozent zwischen 30 und 39 sowie 45 und 64 Jahre alt.

Wie erkennt man Spielsucht? Nach dem DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) gibt es mehrere Kriterien, die auf ein pathologisches Verhalten hindeuten. Sind mindestens fünf dieser Kriterien erfüllt, spricht man von Spielsucht: Etwa, wenn Betroffene mit immer höheren Einsätzen spielen müssen, um dieselbe Wirkung zu erzielen, oder Familien belogen werden, um das Ausmaß des Spielens zu vertuschen.

Der Beginn: Eine Spielsucht entwickelt sich über Jahre. Mit dem Glücksspiel werden anfangs positive Erfahrungen gemacht. Problematisch werde es laut Barbara Siegel-Schwilk von der PSB Esslingen, wenn angenehme Erfahrungen ohne Glücksspiel nicht mehr möglich sind und keine spannenden Alternativen mehr rekrutiert werden können. Glück, Geld und die Suche nach Erfüllung über das schnelle Geld liegen nah beieinander.

Ursachen einer Abhängigkeit und Risikofaktoren: So etwas wie eine „Glücksspielpersönlichkeit“ gibt es nicht. Sucht ist ein jahrelanger Prozess, in dem verschiedene Faktoren zusammenwirken. Ein erhöhtes Risiko haben laut Siegel-Schwilk Personen, die zu impulsiven Verhalten neigen oder Gefühle schlechter kontrollieren können. Das unmittelbare Umfeld, Werbung für Glücksspiele wie auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussen das Risiko, spielsüchtig zu werden.

Die Hilfe: Spielsucht kann (teil-)stationär in einer Fachklinik, ambulant in einer Suchtberatungsstelle oder durch Selbsthilfegruppen wie die Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe Esslingen erfolgen. Die Gruppe für pathologisches Spielen in Esslingen trifft sich jeden Freitag ab 19.30 Uhr in der Plochinger Straße 32. Die Treffen sind vertraulich und kostenlos. Mehr Informationen unter www.freundeskreis-esslingen.de

Hinter #gEZnoch stehen zehn Volontäre und Redakteure unserer Zeitung. Überraschung, Entrüstung, die Kinnlade fällt herunter: Solche Geschichten sind uns wichtig. Und weil man sie nicht als nüchterne Nachricht begreifen kann, erzählen wir sie anders. Thematisch setzen wir uns keine Grenzen und starten mit dem Thema Lügen. Mehr unter: www.geznoch-esslingen.de