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Stuttgart – Rabea und Markus heißen nicht im echten Leben Rabea und Markus. Sie kommt aus einem Vorort von Heilbronn, er gibt Stuttgart als Wohnort an. Auch das stimmt nicht. Nur beim Alter trauen sie sich, die Wahrheit zu sagen: Rabea ist 35 Jahre alt, Markus 58. Die beiden würden sich wohl nicht kennen, wenn sie nicht den selben Feind im Körper hätten: das HI-Virus. Die Aids-Hilfe Stuttgart e.V. ist der einzige Ort, an dem sie darüber reden können. Denn von der Diagnose wissen soll keiner. Beide sind in der Selbsthilfegruppe „Gemischte Gruppe“ in der Aids-Hilfe bei Sozialarbeiterin Sonja Elser. Rabea weiß seit acht Jahren von ihrer Infektion, bei der Aids-Hilfe ist sie erst seit einem Jahr.

Wie viele Menschen wissen von Ihrer Infektion?

Rabea: Die von hier, von der Family. 20 bis 25 Leute. Und meine Therapeutin.
Markus: Ein Freund und sonst niemand. Und hier halt.

Und warum sollen es nicht mehr wissen?

Markus: Es geht niemanden etwas an, es ist meine Privatsache. Ich bin froh, dass es die Schweigepflicht gibt, auch hier in der Aids-Hilfe.

Wie ist es Ihnen eigentlich am liebsten, was man sagt? Infektion? Virus? Krankheit?

Rabea: Oh, ich trage etwas in mir aber ich bin eigentlich – es ist komisch – aber ich sage: Ich bin nicht krank. Aber ich habe etwas in mir, eine kleine tickende Zeitbombe. Ich bin unter der Nachweisgrenze schon seit sieben Jahren. Eigentlich bin ich nicht krank oder ansteckend. Meine Blutwerte sind sogar besser als von einem normalen, nicht-positiven Menschen. Auch mein Arzt sagt: „Sie sind gesund.“

Warum erzählen Sie es dann nicht? Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht?

Rabea: Die Leute sind nicht aufgeklärt. Und ich denke, wenn ich dann ankomme, bin ich gleich wie Pest, hau bloß ab. Als ich mal in einer psychosomatischen Klinik war, da durfte ich bei der Musiktherapie nicht mitmachen, weil ich jemanden anstecken könnte.

Beim Musik machen?

Rabea: Naja, Trompete blasen, die Spucke... Da sagte ich: Ich komme wegen diesem Problem her und werde dann auch noch hier diskriminiert. Da kann ich ja gleich wieder nach Hause gehen. Da sind diese Vorurteile – die ich ehrlich gesagt auch selbst hatte. Aber nach der Infektion, da informiert man sich.

Markus, wann haben Sie von der Infektion erfahren?

Markus: Ich bin seit ’89 infiziert. Mein Arzt hat es mir am Telefon mitgeteilt. Er meinte, da müsste man unbedingt Tabletten nehmen, Therapie anfangen, aber das habe ich nicht gemacht.

Sie haben sich geweigert?

Markus: Naja, geweigert. Ich bin einfach nicht mehr hin. Aber das war ja mein Glück. Die ersten Tabletten waren sehr heftig, da sind viele daran gestorben, wie ich mitgekriegt habe. Ich habe die Angst der Menschen vor Aids kennengelernt. Deshalb habe ich mich sehr zurückgehalten. Ich hatte einen engen Freund von früher, der hat es gewusst, mit dem konnte ich mich in der Zeit nach der Diagnose unterhalten. Er hat mir auch viel beigebracht, wie viel ich sagen soll und wann es besser ist, zu schweigen. Als ich 1997 bei einer Umschulung war, war ich nochmal bei einem Arzt und habe eine Kontrolle machen lassen. Da habe ich dann mit der Therapie begonnen. Ich bin aber nicht in meinem Ort zum Arzt, sondern weiter weg gefahren. Den Ort sage ich jetzt nicht, aber er war 200 Kilometer weit entfernt. Mit dem ICE bin ich morgens schnell hin. Ich hatte in der Zeit noch meine Mutter in Stuttgart zu pflegen, das war nicht so einfach, das zu arrangieren. Ich sollte um immer 10 Uhr beim Arzt sein, und dann mit dem ICE schnell wieder zurück.

Dann mussten Sie viel lügen.

Markus: Jaja, sicher. Meine Mutter hat natürlich schon gespürt, dass irgendwas ist. (Er zuckt mit den Schultern). Ich habe dann mit der Therapie angefangen, aber die Nebenwirkungen waren trotzdem noch heftig. Fettumverteilungsstörung und so, man merkt’s schon. (Er fasst sich an seinen Bauch.) Viel Bauchfett. Es kommen bei mir familiär auch noch viele Krankheiten dazu, Erbkrankheiten, Diabetes. Und durch die Tabletten habe ich andere Krankheiten verstärkt. Es war am Anfang sehr schwer, aber die Tabletten wurden besser, man hat weniger Durchfall, weniger Magenkrämpfe. Irgendwann habe ich aber auch soviel Stress gehabt auf der Arbeit, dass ich Hautausschläge bekommen habe und zusammengebrochen bin. Ich war lange krankgeschrieben, sodass sie mich dann berentet haben. Als ich die volle Berentung bekommen habe, war ich eigentlich ganz froh. Ich habe auch einen Schwerbehindertenausweis mit 100 Prozent.

Wie sind Sie zur Aids-Hilfe gekommen, Markus?

Markus: Ich musste vor drei Jahren zum Kieferchirurgen in Stuttgart. Ich bin extra zu einer Kieferchirurgin ganz oben am Sonnenberg gegangen, damit man mich nicht kennt. Meine Infektion habe ich bei der Anmeldung aber nicht erwähnt. Als ich auf dem Stuhl saß und es erzählt habe, sagte die Ärztin: Ich müsse das doch verstehen, dass sie mich nicht behandeln könne. Sie hätte viele Kinder in der Praxis, ich wäre ein Risiko und könnte die anderen anstecken. Dann habe ich ihr erklärt, dass sie ihr Besteck nach den Patienten zu reinigen hat.

Müssen Sie nicht Ihre Ärzte informieren, dass sie positiv sind?

Markus: Das muss ich nicht, wenn ich unter der Nachweisgrenze bin. Ich wusste, dass es die Aids-Hilfe gibt und habe mit deren Hilfe einen Brief an die zahnärztliche Vereinigung geschrieben. Die Ärztin musste Strafe zahlen und ich habe mein Fahrgeld wiederbekommen. So habe ich die Aids-Hilfe kennengelernt, die Leute hier. Da gab es damals eine Malgruppe. Ich habe hier Leute zum Reden gehabt, bin öfters hergekommen und irgendwann Mitglied geworden.

Aber was sagen Sie, wenn Sie hier hergehen? Wo gehen Sie dann offiziell hin? Haben Sie ein Alibi?

Markus: Nö, ich kann doch zum Kaffeetrinken gehen.

Rabea: Ich gehe nach Stuttgart und gehe was trinken mit Freunden. Das stimmt ja auch.

Markus: Ich bin in den letzten Jahren am Stand auf dem Weihnachtsmarkt dabei gewesen. Weil ich bei der Aids-Hilfe ehrenamtlich tätig werden will, habe ich das Bekannten erzählt.

Ahnt da niemand was?

Markus: Mein Bruder ist Krankenpfleger. Er hat letztes Mal gemeint: „Aber irgendwas muss doch sein, du musst doch auch positiv sein, wenn du da arbeitest, die meisten sind das doch.“ Ich habe dann gesagt: „Nein, sind nicht alle.“

Ihrem Bruder können Sie es auch nicht erzählen?

Markus: Nein, dem erzähle ich es auch nicht.

Rabea: Also meine Familie weiß es, aber wir reden nicht drüber.

Warum?

Rabea: Weil darüber nicht geredet wird. Für die bin ich gesund, und das war’s.

Wann haben Sie es Ihnen denn erzählt?

Rabea: Als ich es erfahren habe. Ich habe angerufen und gesagt: „Ich werde sterben.“ Ich wusste ja nichts. Nun weiß ich: Ich bin nicht Aids-krank. Ich bin HIV-krank. Das ist ein Unterschied. Aids ist die ausgebrochene Krankheit.

Wollen Sie es irgendwann nicht jemanden erzählen?

Rabea: Bevor ich selber mich nicht damit abgefunden habe, sage ich es auch nicht. Denn dann bin ich verletzbar.

Sie haben sich noch nicht damit abgefunden?

Rabea: Nein. Ich hab noch viele andere Baustellen, die ich erstmal abbauen will. Jeder Mensch, der so eine Diagnose erfährt, bekommt erstmal Depressionen. Und so lange du so labil bist, willst du dich auch nicht outen. Ich habe schon sieben Jahre gebraucht, um hier her zu kommen. Ich hätte früher kommen sollen. Aber ich hatte Angst, ich habe ein doppeltes Leben geführt. Auf der Arbeit war alles gut, aber wenn ich heimkam... (sie sinkt in sich zusammen). Ich nehme Antidepressiva und was zum Schlafen. Das alles wirkt sich auch auf die Arbeit aus. Der Chef fragt, warum bist du so lange krank?

Elser: Solange unser System noch so ist, wie es ist, raten wir auch allen tunlichst, dass sie es vermeiden sollen, sich zu outen. Diese Zahnarztgeschichten von Markus gehören leider zur Tagesordnung. Wenn sie als HIV-Positiver in eine Zahnklinik oder Praxis gehen, erhalten sie oft Randtermine mit der Begründung, dies sei alles nur zum „Schutz“ der Angestellten und anderer Patienten. Selbst in vielen Krankenhäusern steht in der Patientenakte riesengroß und dick mit Rotstift „HIV-positiv“ drauf. Weder Markus noch Rabea können sich schützen, wenn sie in einer Praxis sind und dann die Sprechstundenhilfe – ohne ihr was Böses unterstellen zu wollen – das einfach so rausposaunt. Hier entsteht ein Zwangsouting und leider tritt dann das ein, was auch schon in den 80er-Jahren der Fall war: Die Menschen gehen einen Schritt zurück und auf die Seite!

Wo im Alltag müssen sie lügen?

Markus: Beim Zahnarzt. Und früher hatte ich Medikamente, die gekühlt werden mussten. Dadurch, dass ich zwei Kühlschränke gehabt habe, bei meiner Mutter auch einen, als ich sie gepflegte habe, konnte ich dort dann die Tabletten verstecken. Ich habe die Tabletten in eine Vitamindose umgefüllt und unter der Wurst versteckt.

Elser: Vieles sind Schutzlügen und die empfehle ich auch. Rabea und Markus brauchen das, um ein Stück Selbstbestimmung in dieser Geschichte haben. Auch wenn beide unter der Nachweisgrenze sind, ist es ja nicht so, dass es weg ist. Es ist dauerhaft präsent. Der eine braucht Lügen eher mehr, wenn das Umfeld nicht stimmt, der andere weniger.

Und wie ist das mit neuen Beziehungen?

Markus: Das ist das Hauptthema.

Haben Sie eine Beziehung?

Markus: Ja.

Und Ihr Freund weiß das?

Markus: Ja.

Und haben Sie es ihm gleich am Anfang gesagt?

Markus: Nö. Erst vor ein paar Jahren.

Und wie hat er reagiert?

Markus: Ein bisschen verärgert.

Dass Sie es ihm nicht schon früher gesagt haben.

Rabea: Na, hätte, hätte hätte.

Elser: Da stellt sich ja auch die Frage, hättest du es ihm früher gesagt, wäre er vielleicht nicht geblieben.

Markus: Es ist halt schwierig, wenn man jemanden Neues kennenlernt. Man hat schon immer im Hinterkopf, was darf ich machen, was soll ich machen, wie weit kann und darf ich gehen. Das ist einfach schwierig.

Bei Sexualpartnern meinen Sie.

Markus: Ja, das hat man immer im Hinterkopf. Und da kriege ich dann schon Depressionen. Es könnte ja ganz anders sein.

Man könnte sich reinstürzen, ohne nachzudenken.

Markus: Genau. Durch die Krankheit und die Fettumverteilungsstörung bin ich auch ein bisschen entstellt.

Und ihr Partner ist negativ?

Markus: Ja.

Schützen Sie sich noch in Ihrer Partnerschaft?

Markus: Jein, aber wir machen ja kaum noch was.

Hatten Sie einen Partner in letzter Zeit, Rabea?

Rabea: Seit der Infektion nicht mehr.

Und wenn Sie jetzt jemanden kennenlernen?

Rabea: Dann mal sehen. Ich weiß nicht, was in Zukunft kommt.

Wie haben Sie sich angesteckt?

Rabea: Ich kann es nur von meinem ehemaligen Partner haben. Im Nachhinein habe ich dann mitbekommen, dass er viel unterwegs war...

Dass sie nicht die Einzige waren.

Rabea: Anders könnte ich es mir nicht vorstellen. Erst nach der Trennung habe ich es erfahren.

Haben Sie es ihm gesagt? Weiß er, dass er Sie angesteckt hat?

Rabea: Nö. Ich habe keinen Kontakt. Ich weiß nicht, ob er von der Infektion weiß.

Sie wollen sich auch nicht rächen?

Rabea: Wozu? Was habe ich davon? Ich gewinne nichts dazu.

Markus: Man hat ja selbst auch schuld.

Rabea: Aber nicht, wenn man jahrelang zusammen ist.

Markus: Ja, jahrelang ist blöd. Aber Schuldzuweisungen bringen nichts.

Sind Sie nicht wütend?

Rabea: Ach, ich glaube, er kriegt da schon noch was ab. Bei jedem klopft es mal an der Türe.

Wenn Sie von der Untreue Ihres Freundes nichts wussten, mussten Sie ja einen Anlass gehabt haben. um sich zu testen.

Rabea: Ich hatte eine Lungenentzündung. Ich habe aber damals geraucht wie ein Schlot und dachte, es kommt vom Rauchen. Der Arzt im Krankenhaus hat einen Test gemacht. Ein Gutes hat es: Ich bin jetzt Nichtraucherin (lacht). Aber im Krankenhaus hieß es: Eine Woche länger und ich hätte es nicht überlebt.

Markus: Ich hatte einen Freund, der ständig kränklich war. Da fing es an, 1987. Ich hätte hellhörig werden müssen. Aber man denkt immer, man kriegt es selbst nicht. Und als er dann zum Arzt gegangen ist, hat man festgestellt, dass die Krankheit schon fortgeschritten ist. Auf jeden Fall war es ja eh ein Arsch. (lacht) Ich hab mich von ihm getrennt und war froh darüber. Ich habe mich erst ein halbes Jahr darauf testen lassen. Symptome hatte ich keine, ich wollte sicher gehen. Hass habe ich natürlich schon ein bisschen gehabt, aber rächen bringt ja nichts. Ich kannte ihn viel zu kurz und ich hätte ja wissen müssen, dass man aufpassen muss. Und hätte auf die Symptome achten müssen. Früher waren die Anzeichen ja schon bekannt. Wenn man Grippe hat und das laufend, da hätte ich schon ein bisschen vorsichtiger sein sollen. Als die Diagnose da war, war es natürlich schon schlimm. Wenn ich meinen älteren Freund nicht gehabt hätte, den Bekannten, der mich aufgefangen hätte...

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Rabea: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung, am besten gleich in der Grundschule.

Und für sich persönlich?

Rabea (lange Pause): Ich weiß es nicht. Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass ich heirate. Und ja, ein Kind. Das ist die größte Angst und die größte Sehnsucht. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Fragezeichen, Fragezeichen, Fragezeichen.

Haben Sie keine Angst vor dem Virus?

Rabea: Da habe ich gar keine Angst, wenn ich regelmäßig die Medikamente einnehme. Ich hab ihn, aber dann doch wieder nicht. Weil ich ja nicht ansteckend bin.

Markus: Die einzige Angst wäre, wenn das Medikament nicht mehr verfügbar wäre. Oder das Sozialsystem sich ändert.

Elser: Es ist doch komisch: Der Virus ist da und unter Kontrolle. Er ist eigentlich so, dass ihr angstfrei seid, aber er bestimmt trotzdem euer Handeln.

Markus: Ich wünsche mir die Aufklärung natürlich schon, aber das wird ja sowieso nie funktionieren. Die Leute haben unterschiedliche Bildungshintergründe, kommen aus unterschiedlichen Kulturen. Es wird nie so sein, dass man sich als HIV-Positiver in der Gesellschaft wohlfühlt. Ich glaube, verstecken muss man sich in Zukunft auch.

Karla Schairer ... war nach dem Gespräch ganz schön geplättet – und beeindruckt. Mit so viel Offenheit hätte sie nicht gerechnet.