Kristin Pfeifer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Diplom-Pädagogin und arbeitet auch in einer Praxis in Kemnat. Foto: oh - oh

Von Nicole Spiegelburg

Ostfildern – Lügen haben kurze Beine. Das weiß auch Kristin Pfeifer. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin arbeitet in einer Praxis in Kemnat und hat außerdem eine eigene kleine Praxis in Stuttgart. Immer wieder kommen Eltern zu ihr, die Angst haben, ihr Kind entwickele sich zu einem notorischen Lügner. In den meisten Fällen kann die Diplom-Pädagogin jedoch beruhigen: Denn aus ihrer Sicht gehören Lügen in Maßen zu einer ganz normalen Entwicklung eines Kindes dazu.

Sind Kinder geborene Lügner?

Pfeifer: Um eine Aussage eine „Lüge“ zu nennen, muss die Absicht des Sprechenden sein, jemanden gezielt zu täuschen. Ist jedoch ein Kind von einem Sachverhalt überzeugt und dieser stellt sich später als falsch heraus, kann man dann von einer Lüge sprechen? Wohl kaum.

Warum flunkern Kinder?

Pfeifer: Wer kennt das nicht, einmal in einem besseren Licht stehen, ein Missgeschick verbergen oder Geschehenes abschwächen zu wollen. Kinder können ganz ähnliche Motive verfolgen und möchten ihrem Bedürfnis nach einem guten Gefühl, nach Anerkennung und Zuspruch nachgehen. Manchmal geht es auch darum, Grenzen zu testen, sich selbst Freiräume zu schaffen, Gefahren von sich oder anderen abzuwenden oder andere zum Zwecke eigener Motive zu beeinflussen. Über Lügen versuchen Kinder auch, aversive – also unangenehme – Gefühle zu vermeiden. So ist die (Not-)Lüge geboren.

Inwiefern gehören Lügen zu einer „normalen“ Entwicklung eines Kindes dazu?

Pfeifer: Nehmen Sie beispielsweise die Entwicklung sozialer Verhaltensweisen, also erwünschten oder unerwünschten Verhaltens. Kinder erproben sich dabei und beantworten sich Fragen wie: Was ist erlaubt und was nicht? Welche Konsequenzen hat das, was ich tue oder sage? Wie sehen mich andere? Was muss ich tun oder sagen, um anerkannt zu werden? Wie kann ich meine Ziele erreichen?

Wie lernen Kinder zu flunkern?

Pfeifer: Das ist eine gute und komplexe Frage. Neben Aspekten wie dem Temperament eines Kindes oder kognitiven Entwicklung, sind soziale Erfahrungen prägend. Die frühesten Beziehungserfahrungen machen Kinder innerhalb ihrer Herkunftsfamilie, also mit Mutter, Vater, Geschwistern. Bereits in der frühen und mittleren Kindheit ist somit das Klima in der Familie für die sozio-emotionale, sozial-kognitive und sozio-moralische Entwicklung prägend, die sich dann im Verhalten widerspiegeln.

Ab wann beginnen Kinder damit?

Pfeifer: Forscher treffen unterschiedliche Aussagen, ab welchem Alter welche Form des Lügens möglich ist. Ich glaube, es ist sehr individuell. Doch es gibt aus der Entwicklungspsychologie zahlreiche Befunde zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung, die Vermutungen zulassen . . .

. . . die da wären?

Pfeifer: Wir wissen, dass sich das Verständnis eines Kindes von sich, seiner Umwelt und den Konsequenzen seines Handels im Laufe seiner Entwicklung wandelt. Jüngere Kinder sind eher wahrheitsliebend. Sie wissen: Lügen sind Unrecht. Und sie wissen, dass es schlecht ist, absichtlich jemanden zu täuschen. Kinder unter vier Jahren können täuschen, sind jedoch noch nicht hinreichend in der Lage, die Konsequenzen ihres Handelns und Wechselwirkungen vorherzusagen. Flunkern sie, so setzen sie dies meist ein, um Strafen für sich oder andere zu entgehen. Beispiel: „Hast du vom Kuchen genascht?“ „Nein.“ Doch sie verfügen noch über eine hohe Autosuggestion, das heißt, sie glauben Unwahrheiten umso mehr, je öfter sie diese wiederholen.

Ab welchem Alter setzen Kinder die Lüge bewusst ein?

Pfeifer: Jeder, der Kinder hat, erlebt sicherlich, wie im zweiten und dritten Lebensjahr die ersten Manipulationsversuche durch das Kind beginnen. Der Wortschatz des Kindes wächst ebenso wie sein Bedürfnis nach Selbstständigkeit und der Wunsch nach sozialer Anerkennung. Ab dem vierten und fünften Lebensjahr beginnen Kinder, zwischen eigenen Gefühlen und denen anderer besser zu differenzieren. Sie lernen zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden, die Konsequenzen ihres Verhaltens besser einzuschätzen. Sie können die Perspektive eines anderen einnehmen und Worte sowie Taten gezielter dazu nutzen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Wird eine Lüge entlarvt, bekommen Kinder Aufmerksamkeit – wenn auch negative. Eltern sprechen mit ihnen darüber, tadeln oder strafen. Bleibt eine Lüge verborgen, erzielen Kinder einen Vorteil.

Wie verändert sich das Lügen mit zunehmendem Alter?

Pfeifer: Um das sechste Lebensjahr entwickelt sich die Fähigkeit, Perspektiven anderer zu verstehen sowie die Wechselwirkung zwischen dem eigenen Handeln und dem Gegenüber zu erkennen. Auch die Fähigkeit, Gedanken nicht zu äußern, entwickelt sich. Spätestens ab diesem Zeitpunkt werden Kinder kognitiv immer besser in der Lage sein, bewusst zu mogeln. Forscher meinen, ab dem achten Lebensjahr sind Lügen für Kinder nicht mehr in jedem Fall ein Unrecht. Ihre Bewertung einer Situation wird flexibler. Jetzt lernen Kinder, sich selbst aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen, dessen Perspektive zu übernehmen und sich die Sicht des anderen vorzustellen. Damit verändert sich die Qualität einer Lüge. Beispiel: Ein Kind möchte mitspielen und antwortet deshalb auf die Frage, ob es das Spiel kenne, mit einem selbstsicher wirkenden „na klar doch“, obwohl es keine Ahnung hat. Es glaubt dieses Verhalten wirke positiv auf die anderen Kinder. Nun versucht es, durch nachahmendes Verhalten im Spiel zu bleiben.

Wie sieht es in der Pubertät aus?

Pfeifer: Mit Beginn der Pubertät wird Jugendlichen ihr Ansehen unter Gleichaltrigen immer wichtiger. In Chats unter Jugendlichen erleben wir häufiger, dass geflunkert, übertrieben oder geschönt wird, um möglichst gut anzukommen. Zugleich begreifen Jugendliche zunehmend die Tragweite einer Lüge und, dass diese auch Vertrauen zerstören, Misstrauen fördern und Beziehungen verändern kann. Zudem können Jugendliche Situationen nicht nur hinreichend einschätzen, sondern auch ihre Stimme, Mimik und Gestik besser kontrollieren. Sie sind kognitiv in der Lage, Situationen weiter zu denken, um Alibis zu konstruieren oder Widersprüchen vorzubeugen. Und sie sind sich bewusst, dass sowohl sie als auch ihr Gegenüber über diese Fähigkeiten verfügt. Jugendliche lügen daher deutlich geschickter, decken Lügen jedoch auch besser auf.

Hat die Fähigkeit zu lügen etwas mit der Reife des Gehirns zu tun?

Pfeifer: Nun, ich bin keine Neurowissenschaftlerin. Doch wenn es um die Fähigkeit geht, sich in andere hineinzuversetzen und vermutlich auch zu täuschen, sind bei Erwachsenen vor allem der linke mediale präfrontale Kortex und die temporo-parietale Verbindung – also Bereiche des Großhirns – aktiv. Bei Kindern befindet sich das Gehirn noch in der Entwicklung und somit auch die Fähigkeit zur bewussten Täuschung. Ich halte vor allem die sozial-kognitive Entwicklung eines Kindes – die natürlich mit einer neuronalen Reifung verknüpft ist – für relevant, wenn es um die Fähigkeit des Lügens geht. Kinder lernen im Laufe ihrer Entwicklung, mentale Zustände zu interpretieren, also wie sie sich selbst und wie sich andere fühlen, welche Wünsche oder Überzeugungen sie haben und wie sie Situationen wahrnehmen.

Warum lügen einige Kinder mehr als andere?

Pfeifer: Eine klare oder gar einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Studien der amerikanischen Forscher Hartshorne, May oder Burton zeigen allerdings einen Zusammenhang zwischen Intelligenz, Persönlichkeit, Verhaltensabweichungen, äußeren Einflüssen wie Familie oder Freunde sowie der Häufigkeit von Lügen. Es wird vermutet, dass Kinder dann eher lügen, wenn sie a) glauben ein Ziel mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht zu erreichen oder b) den Einsatz an Energie reduzieren wollen. Aus Angst, erwischt und bestraft zu werden, logen in einigen Untersuchungen intelligente Kinder weniger als Kinder mit unterdurchschnittlichem IQ. Sie konnten scheinbar die Konsequenzen ihres Handelns und den Nutzen besser abwägen. Während sozioökonomische Faktoren oder das Geschlecht dabei kaum eine Rolle spielten, stellte sich die innerfamiliäre Beziehung als einflussreicher Faktor heraus. Deutlich wurde, dass Kinder, die häufiger logen, weniger gut sozial angepasst waren.

Wie können Eltern reagieren, wenn sie ihren Sohn oder ihre Tochter bei einer schweren Lügen ertappen?

Pfeifer: Das hängt natürlich von der Situation und dem Alter der Kinder ab. Auf alle Fälle empfehle ich zunächst einmal, Ruhe zu bewahren und sich zu fragen: Was bezweckt mein Kind damit? Hat vielleicht sogar mein Verhalten dazu beigetragen? Befolge ich meine eigenen Lehren? Wie verletze ich Regeln oder warum beuge ich Wahrheiten? Nachdem die Emotionen sich beruhigt haben, halte ich ein Gespräch zwischen Eltern und Kind für sinnvoll. Mit kleineren Kindern können Erwachsene auch humorvoll und spielerisch damit umgehen, indem sie gemeinsam etwa ein Fabelwesen erfinden oder Lügenbrücken bauen, um miteinander leichter ins Gespräch zu kommen.

Ab wann sollten Eltern handeln?

Pfeifer: Ich empfehle Eltern, bereits früh aktiv zu werden. Natürlich bedarf nicht jede Lüge eines harten „Prozesses“, doch Ignorieren hieße, die Kinder zum Lügen zu ermuntern. Deshalb lautet mein Rat: Warten Sie nicht, bis Ihr Kind notorisch – also sehr häufig und über einen längeren Zeitraum – lügt. Aufhorchen sollten Eltern auch, wenn sich ihr Kind wegen seiner Lügen zunehmend ausgrenzt, in Lügennetzen verstrickt oder in seiner eigenen Welt versinkt. Lügen und Lästern in Schule und Freizeit können übrigens auch dramatische Folgen haben. Ich denke dabei zum Beispiel an Bullying in Klassenverbänden oder Mobbing im Sportverein.

Was ist dann konkret zu tun?

Pfeifer: Haben Eltern das Gefühl, ihr Kind isoliert sich durch seine Lügengebäude, können sie sich an Experten wenden: Erziehungsberatungsstellen bieten beispielsweise kompetente Beratungen hierzu an, um dann nach adäquaten Unterstützungsoptionen zu schauen. Sind Kinder die Leidtragenden von Lügen anderer, können Eltern in Absprache mit den Kindern und Jugendlichen zusätzlich aktiv werden und beispielsweise ein klärendes Gespräch mit Vertrauenspersonen in der Institution suchen.

Wie können Eltern ihre Kinder zu ehrlichen Menschen erziehen?

Pfeifer: Wir alle können ein positives Vorbild für Kinder sein: Kinder beobachten uns genau, ebenso die Konsequenzen unseres Handelns und die Reaktionen des Umfelds darauf. Warum antwortet die Mutter, die gerade noch über Kopfschmerzen geklagt hat, auf die Frage eines Bekannten („Na, wie geht‘s?“) mit „Danke, prima“? Die Grenze, wann eine Unwahrheit toleriert und wann sie ein Tabu ist, ist für Kinder nicht leicht zu durchschauen. Über diese Ambivalenzen und Grenzen gilt es, offen und altersgerecht zu sprechen. Zugleich gilt es verständlich zu machen: Zu lügen, um selbst einen Vorteil daraus zu ziehen, ist nicht okay und zerstört langfristig Vertrauen.

Und wie lautet Ihre Zauberformel gegen die Lüge?

Pfeifer: Kindern Offenheit, Vertrauen und Verlässlichkeit entgegenzubringen und ihnen selbst echt, ehrlich und authentisch gegenüber zu treten. Es ist wichtig, Raum für Privatheit und Raum zur eigenen Unabhängigkeitsentwicklung zu geben sowie Aufrichtigkeit zu belohnen.

Immer wieder machen bei #gEZnoch auch Gastautoren aus der Redaktion mit: Diesmal ist unsere Kollegin Nicole Spiegelburg an der Reihe. Als zweifache Mama ist sie prädestiniert für ein Kinderlügen-Thema, zumal die zwei kleinen Jungs der EZ-Redakteurin ganz große Meister im Flunkern sind.