Jörg Meibauer Foto: oh Quelle: Unbekannt

Wenn das Phänomen Lügen wissenschaftlich betrachtet werden soll, ist Professor Jörg Meibauer ein gefragter Gesprächspartner. Er hält dann beispielsweise Vorträge mit Titeln wie „Ist Bullshit nur gequirlte Kacke?“ Derzeit arbeitet er am „Handbuch des Lügens“ der Universität Oxford mit. Hauptberuflich lehrt er an der Universität Mainz den Bereich Deskriptive Sprachwissenschaft.

Sie sind bestimmt noch nie gefragt worden, wie Sie dazu kamen, sich wissenschaftlich mit Lügen zu beschäftigen.

Meibauer: Der Anlass war eine Einladung zur Tagung „Kulturen der Lüge“, die 2002 in Regensburg stattfand. Seitdem habe ich mich immer wieder mit dem Thema beschäftigt und 2014 ein Buch darüber veröffentlicht. Gerade arbeite ich an einem Handbuch des Lügens, das 2018 bei der Oxford University Press herauskommen soll.

Und jetzt bitte die ehrliche Antwort, warum Sie das Thema begeistert?

Meibauer: Ich bin ja Sprachwissenschaftler, und da ist Lügen ein interessantes Thema. Es hat sicher etwas mit der Bedeutung von Äußerungen zu tun, also mit Wahrheit oder Falschheit. Aber es hat auch etwas mit Täuschungsabsicht zu tun, denn der Lügner oder die Lügnerin will ja, dass der Andere etwas Falsches glaubt. Zugleich soll das auf keinen Fall bemerkt werden.

Können Sie mittlerweile besser erkennen, wenn Ihr Gegenüber lügt?

Meibauer: Nein, das kann ich nicht. Eine gute Lüge ist nicht als solche erkennbar. Sie ist ja immer maskiert, als ganz normale und aufrichtige Behauptung getarnt.

Welche Signale in Mimik und Sprache deuten darauf hin, dass der Gesprächspartner die Unwahrheit sagt?

Meibauer: Es gibt verschiedene Signale, die mit kognitiver Belastung der Lügnerin oder des Lügners zusammenhängen. Im Bereich der Mimik können dies sogenannte Mikroexpressionen sein (siehe die amerikanische TV-Serie „Lie to me“), im Bereich der mündlichen Sprache zum Beispiel Pausen, die auf eine erhöhte Planungstätigkeit hindeuten. Die systematische Erforschung solcher Erscheinungen spielt in der Forschung zur Lügendetektion eine große Rolle. Man muss dabei einen Maßstab haben, das heißt den ehrlichen Sprecher. Eine hundertprozentig exakte Lügendetektion scheint es nicht zu geben.

Nebenbei gefragt: Ist Lügen das Gleiche wie die Unwahrheit sagen und schwindeln?

Meibauer: „Die Unwahrheit sagen“ kann man auch unabsichtlich. Fehler würde man aber nicht als Lügen bezeichnen. Umgekehrt kann jemand zufällig etwas Wahres sagen (er/sie hält es aber für falsch), hatte dabei aber eine Täuschungsabsicht. Die meisten würden so jemanden als Lügner bezeichnen. „Schwindeln“ kann einfach Lügen sein, aber ist nicht so stark negativ bewertet. Oder es meint, eine Geschichte erfinden, um der Wahrheit auszuweichen und diese zu verschleiern.

Es gibt Menschen, die sich beim Lügen geschickter anstellen als andere. Welche Fähigkeiten sind notwendig?

Meibauer: Ein gutes Gedächtnis. Belastbarkeit unter Stress. Eine möglichst genaue Kenntnis der Redesituation und dessen, was andere wissen oder nicht wissen. Flexibilität, also kein starres Festhalten an einem Lügenplan. Normales sprachliches Verhalten: weder zu viel noch zu wenig sagen, einen normalen Wortschatz verwenden. Und noch viele Fähigkeiten mehr. Geschicktes Lügen ist in diesem Sinne eine große kognitive Leistung.

Beschäftigen Sie sich auch mit der moralischen Seite der Lüge oder überlassen Sie das Theologen?

Meibauer: Moral ist zwar kein Gegenstand der Sprachwissenschaft. Aber es gibt im Alltag ganz gewöhnliche Lügen, die mit Höflichkeit zu tun haben. Sprachliche Höflichkeit ist durchaus ein Gegenstand der Sprachwissenschaft. Es geht um die Gestaltung guter sozialer Beziehungen und um Anerkennung des Anderen. Meine Frau kauft sich ein neues Kleid, das ich ganz schrecklich finde. Sie fragt erwartungsvoll: „Na, wie sehe ich aus?“ Ich sollte nicht ehrlich antworten „grauenhaft“, sondern eher „Steht dir gut.“ Hier kommt offensichtlich eine moralische Dimension (diese Lüge ist gut/schlecht) ins Spiel. Auch in einer anderen Hinsicht ist Moral relevant. Meine moralischen Überzeugungen leiten mich ein Stück weit in meiner Entscheidung, in einer bestimmten Situation ehrlich zu sein oder nicht. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Moral und kommunikativem Verhalten.

Vertrauen ist das Gegenstück zur Lüge. Ohne Vertrauen funktioniert keine Partnerschaft, keine Familie, keine Gesellschaft. Wer ist dafür verantwortlich, dass Menschen die richtige Balance finden?

Meibauer: Zu entdecken, dass wir bösartig belogen worden sind, ist ein schreckliches Erlebnis. Unser Vertrauen darauf, dass wir dem Anderen Glauben schenken können, ist zerstört. Auf der anderen Seite kann man zeigen, dass prosoziale Lügner(innen), die durch eine Lüge einen anderen beschützen, sogar einen Vertrauenszuwachs bekommen können. Die richtige Balance muss jeder Mensch für sich selbst finden. Und es gibt viele Faktoren, die ihm das erlauben: zum Beispiel die Kultur und Gemeinschaft, in der er lebt, aber auch emotionale Systeme, die mit positiven und negativen Gefühlen zu tun haben, zum Beispiel Freude und Anerkennung, aber auch Scham und Schuld.

In der Politik erleben wir gerade das Phänomen, dass Politiker, die es offensichtlich mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, sehr erfolgreich sind. Warum jubeln viele Menschen beispielsweise Präsident Trump zu und glauben anderen Politikern gar nichts mehr?

Meibauer: Trump ist ein Bullshitter. Bullshit ist ein Begriff aus der Sprachphilosophie von Harry G. Frankfurt. Bullshitter scheren sich - anders als Lügner - nicht um die Wahrheit, sie sind ihr gegenüber indifferent. Frankfurt findet sogar, dass Bullshitter ein größerer Feind der Wahrheit sind als Lügner. Bullshitten finden viele cool (ich erlaube mir, mich um Wahrheit oder Falschheit einfach nicht zu scheren!) und unterhaltsam (es ist lustig, Bullshittern zuzuhören).

Was hält der Lügen-Experte vom Sprichwort „Ehrlich währt am längsten“?

Meibauer: Finde ich prima. Unehrlich kann auch wichtig sein, wie deutlich wurde. Aber auf lange Sicht sollte Ehrlichkeit die Oberhand behalten. Ehrlichkeit gegenüber den Fakten (was mit menschlicher Erkenntnis zu tun hat) und Ehrlichkeit gegenüber den Mitmenschen (was mit Vertrauen und Kooperation zu tun hat).

Das Interview führte Roland Kurz.

Über #gEZnoch

Hinter #gEZnoch stehen zehn Volontäre und Redakteure unserer Zeitung. Überraschung, Erstaunen, Entrüstung, die Kinnlade fällt herunter, oder man muss einfach losprusten: Solche Geschichten sind uns wichtig. Und weil man sie nicht als nüchterne Nachricht begreifen kann, erzählen wir sie Euch anders. Thematisch setzen wir uns dabei keine Grenzen und starten mit dem Schwerpunkt Lügen. Immer wieder machen bei diesem Projekt auch Gastautoren aus der Redaktion mit: Diesmal ist unser Kollege Roland Kurz an der Reihe.

Die Karikatur stammt von Denise Kupka. Die Wernauerin ist Mitglied unserer #gEZnoch-Jugendredaktion und hat eine Leidenschaft für Karikaturen.

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