Sigrid Altherr-König Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Wieder miese Ergebnisse bei einer Bildungsstudie, wieder der erhobene Zeigefinger aus dem Kultusministerium - und auch in diesem Schuljahr wieder zu wenig Lehrkräfte an den baden-württembergischen Grundschulen. Das alles kommt nicht von ungefähr, sagt Sigrid Altherr-König. Die 64-jährige Lehrerin an der Pliensauschule, einer dreizügigen Ganztagsgrundschule in der Esslinger Pliensauvorstadt, vertritt als Kreisfachgruppenvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Esslingen-Nürtingen die Interessen der Lehrkräfte an den Grundschulen im Kreis Esslingen.

Wie ist denn derzeit die Stimmung in den Lehrerzimmern im Kreis Esslingen?

Altherr-König: Die Kolleginnen und Kollegen sind mehr als ärgerlich, dass sie schon wieder für die Mängel im Schulsystem und für die schlechten Ergebnisse der IQB-Studie verantwortlich gemacht werden. Sie sind wütend, dass ihnen immer wieder der Schwarze Peter zugeschoben wird. Sie leisten unter den Rahmenbedingungen, die sie derzeit haben, Außerordentliches und arbeiten oft bis an den Rand der Erschöpfung.

Was hat denn aus Ihrer Sicht zu dem schlechten Ergebnis der baden-württembergischen Grundschulkinder in der Studie geführt?

Altherr-König: Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Die Grundschulen haben im Landtag anscheinend keine Lobby. Guter Unterricht ist ein Unterricht, der auch stattfindet. Und das passiert nicht immer, obwohl wir auf dem Papier eine verlässliche Grundschule haben. In manchen Grundschulen in unserem Kreis ist nicht einmal der Pflichtunterricht abgedeckt. Es fehlen Krankheitsvertretungen. Baden-Württemberg steht in der Lehrer-/Schülerrelation in Deutschland an letzter Stelle. In keinem anderen Bundesland gibt es weniger Unterricht als in Baden-Württemberg. Die Grundschule hat als einzige Schulart auch keine einzige Förder- und Differenzierungsstunde über die Pflichtstunden hinaus. Flüchtlingskinder und Kinder mit Sprachförderbedarf bekommen teilweise nicht einmal mehr 18 Wochenstunden. Die Grundschulen sind auch bei der Inklusion unzureichend ausgestattet: Wir haben viel zu wenig Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Es gibt einfach derzeit generell zu wenig Grundschullehrkräfte. Außerdem ist die Besoldung niedriger als bei den Lehrkräften der Sekundarstufe. Für die Schulleitungstätigkeit werden viel zu wenig Stunden angerechnet.

Sie sind seit 1976 mit einer Unterbrechung von 13 Jahren im Schuldienst. Wie hat sich Ihr Beruf in dieser Zeit verändert?

Altherr-König: Ich habe mit 45 Schülerinnen und Schülern in einer Klasse begonnen - und es hat geklappt. Heute sitzen in etwa halb so viele Kinder im Klassenzimmer - und es ist viel schwieriger. Viele Eltern wollen oder eher können ihrer Erziehungsaufgabe nicht mehr nachkommen. Wir müssen zum Beispiel immer öfter wochenlang hinterhertelefonieren, dass das Kind einen Bleistift oder ein Heft mitbekommt. Wir erleben oft, dass Kinder nicht pünktlich und ohne Frühstück zur Schule kommen oder dass sie nicht genügend Schlaf haben. Immer mehr Kindern wird abends nicht mehr vorgelesen. Da können sich keine Fantasien, kein Sprachschatz, kein Grammatikbewusstsein entwickeln. Es geht nicht darum, dass Eltern mit ihren Kindern Rechtschreibung oder Rechnen pauken sollen. Es geht um grundlegende Dinge.

Welche Konsequenzen zieht die Gewerkschafterin aus den Erfahrungen der Lehrerin?

Altherr-König: Um auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reagieren zu können, müssen wir vor allem unsere Arbeitsbedingungen verbessern und zusätzlich qualifizierte Fortbildungen in ausreichender Anzahl bekommen. Viele Lehrkräfte trauen sich nicht mehr, auf Fortbildungen zu gehen, weil dann schon wieder Klassen aufgeteilt oder Überstunden von ihren Kolleginnen und Kollegen gemacht werden müssen. Bei besserer Lehrerversorgung kann die Qualitätsfrage besser angegangen werden. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Bei einer Lehrerfortbildung zum Thema Rechtschreibung in den vergangenen Wochen gab es in einem anderen Kreis 52 Anmeldungen - es sind aber nur 21 Interessenten zugelassen worden. Und das beim Thema Rechtschreibung! Es herrscht auch noch das Vorurteil, wir brächten den Kindern das Schreiben nur nach Gehör bei. Ich kenne keine einzige Schule, die das macht. Ich wüsste nicht, welche Lehrkraft Rechtschreibregeln vernachlässigen würde. Die Folgen der Digitalisierung dürfen auch nicht vergessen werden. Es gibt Kinder, die nicht mehr genau hören oder sauber sprechen. Wenn die Laute aber nicht genau gehört oder gesprochen werden, fällt eine richtige Rechtschreibung schwer.

Sitzen die Kinder denn tatsächlich schon so früh vor Tablet oder PC?

Altherr-König: In manchen Familien läuft der Fernseher den ganzen Tag durch. Im Arzt-Wartezimmer kann man schon Dreijährige am Tablet wischen sehen. Wenn wir Elternabende zum Segen und Fluch der neuen Medien machen, kommen nur diejenigen, die es eigentlich schon wissen. Manche Eltern tun sich auch schwer zu akzeptieren, dass ihr Kind besonderen Unterstützungsbedarf hat - zum Beispiel von einer logopädischen oder einer psychologischen Fachkraft. Wenn dann für diese Kinder mühsam ein Platz oder ein ambulantes Angebot in einer entsprechenden Einrichtung erkämpft wurde, gehen manche Eltern mit ihnen nicht hin. Aber wer nicht richtig spricht, kann auch nicht richtig schreiben. Es wird heute in vielen Familien einfach zu wenig gesprochen - das trifft nicht nur auf Migranten zu.

Die Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen, haben sich verändert.

Altherr-König: Ja. Sie haben nicht mehr genügend Bewegung, kämpfen mit Reizüberflutung. Sehr viele Kinder leben zunehmend in Armut. Das wirkt sich auch auf die schulischen Leistungen aus. Dem gilt es natürlich auch entgegenzusteuern.

Über die Ganztagsschulen versucht man ja, unterschiedliche Voraussetzungen in den Elternhäusern ein Stück weit auszugleichen. Was bedeutet es für ein Kollegium, Ganztagsschule zu werden?

Altherr-König: Es gibt dafür viel zu wenig Lehrerstunden. Wenn Lehrer den ganzen Tag an der Schule sind, erleben sie zudem Lärm hoch zehn. Es ist wahnsinnig anstrengend. Wenn wir um 16 Uhr nach Hause kommen, geht es weiter mit der Arbeit. Mit der Vorbereitung, mit Korrekturen, mit dem Ausmachen von Elterngesprächen. Die sind in der Grundschule das A und O. Wir haben bei einem vollen Deputat 28 Unterrichtsstunden pro Woche. Da ist all das, was ich beschrieben habe, nicht enthalten - auch keine Konferenzen oder Fortbildungen, keine Elterngespräche, keine Zusammenarbeit mit Psychologen, Ärzten, Frühförderstellen, Sozialarbeit, Sozialem Dienst, keine Materialbeschaffung …

Was heißt das, wenn dann auch noch Krankheitsfälle im Lehrerzimmer dazukommen?

Altherr-König: Ich schildere Ihnen jetzt am Beispiel unserer Schule, wie es derzeit an sehr vielen Schulen im Land aussieht. Da wir im Moment keine Krankheitsvertretungen haben, hat die Schulleitung nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie muss entweder Überstunden anordnen oder die betreffende Klasse in Gruppen teilen. Hat man seine eigene Klasse gerade ruhig bekommen, kommen die ersten fünf Vertretungskinder ins Klassenzimmer. Wenn mehrere Kolleginnen krank sind und es gar nicht anders geht, geht es zu wie in einem Taubenschlag. Unter dieser ständigen Unruhe leidet die Unterrichtsqualität. Früher hatten wir an vielen Schulen Springerinnen oder Springer. Wir haben als GEW schon lange gesagt, dass es Qualitätseinbrüche geben wird, wenn die Ressourcen nicht bereitgestellt werden. Wir sind froh, dass die Ergebnisse der IQB-Studie eine Diskussion über unsere Arbeitsbedingungen und finanziellen Ressourcen in Gang bringen.

Dennoch hat die Kultusministerin Konsequenzen gefordert ...

Altherr-König: Ja, aber Kontrolle oder zusätzliche zentrale Klassenarbeiten in Klasse zwei und vier machen die Grundschulen nicht stärker. Die Schulen auf dem Berg in Esslingen mit den Schulen in der Innenstadt zu vergleichen, ist wie der Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Wir machen doch ständige Lernstandsdiagnosen! Aber vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter. Wir wissen doch, wo es klemmt. Es wird diagnostiziert auf Teufel komm raus. Und dann? Was machen wir mit den Ergebnissen? Wir haben als einzige Schulart keine ausgewiesenen Förderstunden über den Pflichtstundenbereich hinaus, es gibt kaum noch Kurse für lese-, rechtschreib- oder rechenschwache Kinder oder sonstige Fördermaßnahmen. Und das schon seit Jahren.

Schulen wie die Ihrige haben aufgrund des Einzugsgebiets ohnehin schon einen großen Anteil von Schülern mit ausländischen Wurzeln. Spüren Sie auch schon den Zuwachs der Flüchtlingskinder?

Altherr-König: Wir haben zwei internationale Vorbereitungsklassen. Ein paar Flüchtlingskinder sind darunter. Auch traumatisierte, auf die wir besonders achten müssen. Das Problem ist die ungeheure Heterogenität in diesen Klassen. Die einen Kinder sind neun Jahre alt und waren noch nie auf einer Schule, andere sind leistungsmäßig sehr gut, können aber die Sprache nicht. Die Kolleginnen, die sie betreuen, müssen auf verschiedensten Niveaus unterrichten. Das kostet unglaublich viel Zeit in der Vorbereitung. Wenn die Kinder dann in die Regelklassen kommen, ist das für uns eine wichtige Aufgabe. Wir nehmen die Herausforderung an, aber es kann uns nicht immer noch mehr auf den Buckel gepackt werden. Wir brauchen die Ressourcen dazu. Wir Lehrerinnen und Lehrer wollen ja etwas leisten. Wir wollen ja gute Qualität liefern!

Dass die Heterogenität in den Grundschulen am größten ist, wurde in den vergangenen Jahren nie groß thematisiert. Ärgert Sie das?

Altherr-König: Bei uns Grundschullehrkräften rennt man mit der Forderung, mit zunehmender Heterogenität umzugehen, offene Türen ein. Aber auch das geht nicht ohne Ressourcen. Ich kann nicht 28 reguläre Unterrichtsstunden haben und muss 20 davon auf drei unterschiedlichen Niveaus vorbereiten. Es geht ja schon in den Kindergärten los, in denen sich 28 Kinder eineinhalb Fachkräfte teilen müssen. Wie sollen die Erzieherinnen so eine qualifizierte Sprach- oder mathematische Förderung hinbekommen? Erzieherinnen werden gesucht, aber schlecht bezahlt. Es wird immer gesagt: Auf den Anfang kommt es an. Aber dann muss man mehr Geld hineingeben. Für die Kooperation zwischen Grundschule und Kindergarten im Jahr vor der Einschulung bekommt jede Schule gerade einmal eine Stunde wöchentlich zugewiesen - und bei uns sind sechs Kolleginnen dafür wochenlang im Einsatz.

Warum lohnt es sich trotz alledem für junge Menschen auch heute noch, Grundschullehrerin oder Grundschullehrer zu werden?

Altherr-König: Kein Arbeitstag gleicht dem anderen. Jeden Tag stellen sich neue Herausforderungen. Es ist ein spannender Beruf. Es ist immer wieder schön zu erleben, wie sich im Erstunterricht bei den Kindern durch Lesen, Schreiben und Rechnen eine ganz neue Welt auftut. Was gibt es Beglückenderes als Kinder, die wissbegierig sind, Fragen stellen und spontan ihre Freude am Lernen kundtun?

Das Interview führte Claudia Bitzer.

Zur Person: Sigrid Altherr-König

Sigrid Altherr-König (64) hat an der PH Freiburg Deutsch und Biologie fürs Lehramt an Grund- und Hauptschulen studiert. Sie unterrichtet an der Esslinger Pliensauschule, einer Ganztagsgrundschule mit Innenstadtstrukturen, war jedoch auch in Häusern mit völlig anderen Einzugsgebieten im Raum Stuttgart/Esslingen eingesetzt und hat Erfahrungen über die Schule hinaus: Zehn Jahre lang arbeitete sie als gelernte Industriekauffrau in einem Stuttgarter Metallbetrieb, war auch IG-Metall-Vertrauensfrau. Die Mutter zweier erwachsener Söhne ist Personalrätin beim Staatlichen Schulamt Nürtingen und als Vorsitzende der Fachgruppe Grundschule Mitglied des GEW-Kreisvorstands Esslingen-Nürtingen.