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Von Melanie Braun

Übergewicht, zu wenig Bewegung, schlechte Ernährung: Die Menschen in Baden-Württemberg leben am ungesündesten in ganz Deutschland - das war jüngst das Ergebnis einer Studie der Deutschen Krankenversicherung (DKV). Tatsächlich sehen auch einige Experten aus dem Gesundheitsbereich im Kreis Esslingen noch viel Luft nach oben. Mit einer gesünderen Lebensweise wären viele Krankheiten zu vermeiden, so der Tenor.

Rainer Graneis, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Esslingen und Allgemeinmediziner in Ostfildern-Nellingen, sagt klar: „Die Leute tun wahnsinnig wenig für ihre Gesundheit.“ Die Bereitschaft, Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen, selbst aktiv zu werden und für die Gesundheit auch mal Entbehrungen hinzunehmen, sei sehr gering. „Der Respekt für den eigenen Körper fehlt“, sagt Graneis. Die Krankheiten, die er am häufigsten behandele - also hoher Blutdruck, Diabetes und Rückenprobleme - seien meist Folgen von Übergewicht.

Oft werde zwar gefragt, was man gegen die Beschwerden tun könne, aber nur ein verschwindend geringer Teil der Leute setze die Vorschläge dann auch um. Die Ausreden seien stets ähnlich: Man habe keine Zeit für Sport, man bewege sich ohnehin schon genug und esse doch gar nicht so viel. Er habe den Eindruck, die Leute würden ihren Körper gern beim Arzt oder Physiotherapeuten abgeben und dann gesund wieder abholen - wie ein Auto, das man zur Reparatur in die Werkstatt bringt. Natürlich gebe es auch viele, die gesund lebten, sagt Graneis: „Aber die kommen nicht zu mir.“

Ulrich Schneider, Physiotherapeut in Esslingen, hat ähnliche Beobachtungen gemacht wie Graneis. Es gebe immer mehr Menschen mit orthopädischen Problemen oder Stresssymptomen, aber nur wenige, die aktiv etwas dagegen täten. Den Leuten Übungen gegen ihre Beschwerden zu zeigen, die sie dann zu Hause machen sollen, bringe gar nichts: „Das funktioniert heute nicht mehr“, sagt Schneider.

Dabei sieht auch der Physiotherapeut mangelnde Bewegung, falsche Ernährung und als Folge davon Übergewicht als Hauptursache für die meisten Beschwerden seiner Patienten - etwa Gelenkbeschwerden, Arthrosen oder chronische Schmerzen. Allerdings sei es heute tatsächlich oftmals schwierig, die drei Elemente gesunden Lebens, nämlich gesunde Ernährung, Bewegung und Entspannung, in den Arbeitsalltag zu integrieren. Der Druck im Job sei oft so groß, dass viele gar nicht mehr abschalten und entspannen könnten. Menschen, für die Sport zusätzlicher Stress bedeute, könnten sich nach der Arbeit dann meist gar nicht mehr dazu aufraffen. „Es ist heute schwer, die Leute zu motivieren“, sagt Schneider.

Am einfachsten sei es noch, wenn die Leute versuchten, Bewegung in ihren Alltag zu integrieren. So könne man etwa Treppen etwas schneller laufen als sonst, um den Kreislauf anzuregen, beim Betten machen solle man die Decken ruhig zehn Mal ausschütteln und so die Armmuskeln trainieren und beim Telefonieren im Job schade es nicht, aufzustehen und auf einem Bein zu balancieren, um die Koordinationsfähigkeit zu trainieren.

Auch in punkto Ernährung gibt es noch Verbesserungspotenzial, sagt die Esslinger Ernährungsberaterin Hanna Ritter. „Die Leute essen zu wenig Gemüse, zu viel Fleisch und Wurst, zu fett und zu süß“, bringt sie es auf den Punkt. Am schlimmsten sei aber, dass viele zu wenig oder das Falsche trinken würden. Mindestens anderthalb bis zwei Liter pro Tag sollten es sein, das sei wichtig für den Kreislauf und den Stoffwechsel. Übertreiben solle man es allerdings auch nicht: Mehr als drei Liter solle man an einem normalen Tag nicht trinken. Denn mit zu viel Flüssigkeit würden zu viele Mineralien aus dem Körper geschwemmt, sagt Ritter.

Wichtig sei aber auch, das Richtige zu trinken, also vor allem Wasser und ungesüßte Kräuter- oder Früchtetees. Limonaden und Eistees enthielten zu viel Zucker, ebenso Säfte. Saftschorlen sollten höchstens zu einem Drittel oder Viertel aus Saft bestehen und mit gekauften Smoothies solle man ohnehin vorsichtig sein: „Es gibt keine Regelung, was da hinein darf“, sagt Ritter. Deshalb sei oft nicht erkennbar, ob der Smoothie etwa mit Apfelsaft gestreckt wurde, ob Zucker zugesetzt oder ballaststoffreiche Bestandteile herausgefiltert wurden. Im Zweifelsfall könne ein Smoothie daher eine Kalorien- und Zuckerbombe sein. Ritter rät dazu, solche Drinks lieber mit frischen Früchten selbst zuzubereiten. Obst werde angesichts seines teils hohen Zucker- und Kaloriengehalts ohnehin tendenziell eher zu viel verspeist. Besser sei es, viel Salat und Gemüse zu essen, das enthalte kaum Kalorien, dafür aber viele gesunde Ballaststoffe und Mineralien.

Insgesamt beobachte sie zwar, dass viele Menschen sich inzwischen bewusster ernährten als früher, sagt Ritter. Doch immer mehr ließen sich auch von Trends leiten, etwa vom Boom der sogenannten „Frei-von-Produkte“ wie gluten- oder laktosefreien Waren. Diese seien für Menschen mit Unverträglichkeiten gedacht. Bei wem eine solche nicht diagnostiziert sei, der solle sich hier lieber zurückhalten. Denn wer ohne adäquaten Ausgleich zu viel weglasse, dem könne eine Mangelernährung drohen - und per se gesünder seien diese Produkte ohnehin nicht. Insgesamt rät Hanna Ritter dazu, die zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu befolgen, nach denen man unter anderem fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag essen sollte, reichlich Getreideprodukte und Kartoffeln, viele Milchprodukte, öfter mal Fisch, aber Fleisch und Eier nur in Maßen.

Ganz anders als seine Kollegen sieht Wolfgang Bosch, stellvertretender Vorsitzender der Kreisärzteschaft und Allgemeinmediziner in Ostfildern, die Situation. Für ihn ist die Studie der DKV unnötig und irrelevant. Zum einen sei für ihn nicht nachvollziehbar, wie die Studie erstellt wurde, zum anderen sei die Botschaft für ihn lediglich der erhobene Zeigefinger: „Der Versicherte soll am besten gesund sterben, damit er nicht so teuer ist“, sagt der Mediziner. „Aber mir fällt nicht auf, dass die Leute weniger gesundheitsbewusst wären als früher.“ Zudem hätten die Menschen in Baden-Württemberg die höchste Lebenserwartung in Deutschland - und einen solchen Wert erreiche das Land nur, wenn viele gesund lebten.

Beim Gesundheitsamt des Landkreises Esslingen hat man ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine ungesunde Lebensführung der Bürger. Allerdings hat man hier als einzige Quelle zu diesem Thema die Daten über den Anteil übergewichtiger Kinder bei der Einschulungsuntersuchung. Dieser ist in den vergangenen Jahren sogar zurückgegangen: Von 9,7 Prozent im Jahr 2010 auf 9,2 Prozent 2013, und nur noch 7,8 Prozent 2014.

Zu diesem Thema gibt es auch eine Umfrage auf der Internetseite der Eßlinger Zeitung unter www.esslinger-zeitung.de/umfragen