Claudia Bitzer

Der Esslinger OB kennt den Handlungsbedarf nicht erst seit dem Neujahrsempfang: „In Esslingen haben immer größere Bevölkerungsgruppen keine Chance mehr, bezahlbare Wohnungen zu finden“, hat Jürgen Zieger vor ein paar Tagen im Neckar Forum die Aufgabe umrissen, die die Stadt dringend lösen muss. Und das, obwohl sie im Spannungsfeld von Ökologie, Anwohnerinteressen und Neubauvorhaben auf „vermintem Gelände“ agiert. Doch die Not ist groß. Das trifft nicht nur auf die Menschen ohne oder mit nur sehr geringem Verdienst zu. Längst haben auch Familien mit einem mittleren Einkommen massive Schwierigkeiten, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Stadt will mit ihrem Wohnraumversorgungskonzept deshalb Wohnbauunternehmen und private Investoren dazu bringen, bei Neubauvorhaben für diese Bevölkerungsgruppen einen festen Anteil zu reservieren (siehe Infobox).

Stadt will Marktpreise

Ende des vergangenen Jahres hat die Verwaltung städtische Grundstücke in der Traifelbergstraße auf dem Zollberg, in der Zeller Alleenstraße und auf einem Teil des Sportgeländes in der Hegensberger Wilhelm-Nagel-Straße ausgeschrieben, die sie nach Konzept und Gebot hergeben will. „Es gibt für alle drei Grundstücke Bieter“, berichtet Gunther Burmeister vom Liegenschaftsamt der Stadt, die meisten Angebote stehen für den Zollberg. Detaillierter konnte er sich jedoch noch nicht über die Ausschreibungsergebnisse auslassen.

Tatsache ist jedoch, dass die Stadt mit den geforderten Mindestgeboten von 685 Euro pro Quadratmeter auf dem Zollberg, 815 Euro in Hegensberg und 450 Euro in Zell marktübliche Preise für die Grundstücke verlangt. Bemessungsgrundlage war die Bodenrichtwerttabelle und die Ausnutzungsmöglichkeiten der Grundstücke, sagt Burmeister. „Und die Stadt packt da auch noch ein bisschen oben drauf“, so die Einschätzung von Oliver Kulpanek, Vorstand der Baugenossenschaft Esslingen. Zugleich können die Interessenten im Zuge des Wohnraumversorgungskonzepts jedoch nur noch über ein Viertel der Wohnungen, die sie dort bauen werden, frei verfügen. Lohnt sich das für sie überhaupt noch? Im Rathaus verweist man auf den Verkauf des ,Alten Sportplatzes‘ in Weil an die Godel Projektentwicklung GmbH aus Stuttgart - das erste große städtische Areal, das unter Vorgabe des seinerzeit neu beschlossenen Konzepts vermarktet wurde.

Skeptische Stimmen

Hört man sich in der Branche um, werden jedoch vielerorts auch skeptische Stimmen laut. Kulpanek zum Beispiel hat zwar Verständnis dafür, dass die Stadt nichts zu verschenken hat. Aber für ein Wohnbauunternehmen lohne sich ein Engagement dann nur noch, wenn es das ihm noch verbliebene Viertel an Wohnungen so teuer wie möglich abgebe - „wenn die Querfinanzierung überhaupt funktioniert“.

Während die Baugenossenschaft ihren Hut nicht in den Ring geworfen hat, hat die Esslinger Wohnungsbau GmbH (EWB) - die zur Hälfte der Stadt, zur Hälfte der lokalen Wirtschaft gehört - für alle drei Bauplätze mitgeboten. Allerdings will sie dort nicht nach dem Wohnraumversorgungskonzept bauen, sondern wie in den „Grünen Höfen“ in der Pliensauvorstadt Baugruppen nach dem Esslinger Modell zum Zuge kommen lassen. Geschäftsführer Hagen Schröter verweist ebenso wie die Baugenossenschaft auf zahlreiche Mietprojekte, die man derzeit am Laufen habe und die die Kapazitäten binden. Mit dem Baugruppen-Modell ziele man jedoch genau auf die Schwellenhaushalte des Wohnraumversorgungskonzepts, denen man so zu einer Eigentumswohnung verhelfen könne. Schröter: „Am Ende entlastet jede gebaute Wohnung den Wohnungsmarkt.“

Anwohner sichten Zauneidechsen

„Je mehr Wohnraum wir schaffen, desto besser können wir in diesen neuen Gebäuden für gemischte Strukturen sorgen“, wirbt Franz Schneider vom Stadtplanungsamt für eine zügige Bebauung aller städtischen Grundstücke, die die Verwaltung in den vergangenen Monaten ins Rennen geworfen hat. Zumal nach den derzeitigen Prognosen Ende des Jahres mindestens noch 280 Flüchtlinge in der Anschlussunterbringung versorgt werden müssen. Und da sind die Kapazitäten der Hoffnungshäuser, die die christliche Stiftung Hoffnungsträger auf städtischem Grund in Berkheim und in St. Bernhardt bauen will, bereits ebenso mit eingerechnet wie der Umbau des Fabrikgebäudes der Freien Evangelischen Schule Esslingen. Die will in dem bislang ungenutzten Teil ihrer Mettinger Immobilie als Interimslösung Sozialwohnungen schaffen und für die nächsten 15 Jahre an den Eigenbetrieb Städtische Gebäude Esslingen vermieten. 22 Wohnungen für etwa 100 Menschen in der Anschlussunterbringung sind derzeit geplant. Der ATU soll Ende des Monats den notwendigen Entwurfsbeschluss für den Bebauungsplan auf den Weg bringen, der aus einem Gewerbe- ein Mischgebiet macht. Schneider hofft, dass die Baugenehmigung zügig erteilt werden kann, und „wir das Gebäude Ende des Jahres belegen können“.

Während die Bauarbeiten für die beiden Hoffnungshäuser in der Rotenackerstraße in St. Bernhardt und im Berkheimer Rohrackerweg bereits gestartet sind, ist in der Berkheimer Brühlstraße immer noch Ruhe. Laut Marcus Witzke von der Stiftung Hoffnungsträger hat das Verwaltungsgericht noch nicht über die Anwohnerklagen entschieden. Die Nachbarn wehren sich dagegen, auf dem Wege von umfangreichen Befreiungen vom Bebauungsplan zwei dreigeschossige Bauten neben ihre Ein- und Zweifamilienhäuser hingestellt zu bekommen. Zudem haben sie Witzke zufolge auf streng geschützte Zauneidechsen verwiesen, die auf den betreffenden Wiesen zuhause seien. Sollte sich ihre Präsenz bewahrheiten, müssten die Tiere nach der Winterstarre im Frühjahr in einem aufwendigen Verfahren auf die benachbarten Wiesen verdrängt werden, bevor die Baumaschinen auffahren können. Nach Baustart wird es Witzke zufolge jedoch zügig gehen. Er rechnet damit, dass in der Rotenackerstraße bereits Ende Februar das Haus mit seinen Fertigteilen soweit steht, dass es als Musterhaus besichtigt werden kann.

Zukunftsmusik mit Misstönen

Unter dem Baugesuch der Esslinger Wohnungsbau, entlang der Straße Am schönen Rain 28 Mietwohnungen für Menschen mit einem mittleren Einkommen zu bauen, fehlt Schneider zufolge nur noch der Stempel. Stimmen die entsprechenden Gremien der EWB zu, entstehen dort und auf dem benachbarten Gebiet Flandernhöhe West in den nächsten Jahren insgesamt 152 Miet- und Eigentumswohnungen nach dem Wohnraumversorgungskonzept. Die Wohnungen Am schönen Rain werden Schröter zufolge frühestens im Frühjahr 2018 bezogen.

Neben den genannten Grundstücken wird die Stadt noch drei weitere Flächen ausschreiben, für die es bereits rechtskräftige Bebauungspläne gibt und die sie ebenfalls nach dem Wohnraumversorgungskonzept vergeben will: Für das knapp 1000 Quadratmeter große Grundstück in der Berkheimer Seestraße 60, das den Stadtwerken gehört, gibt es eine genehmigte Bauvoranfrage für fünf Wohnungen, Im Holzberg in Wiflingshausen wird die Stadt eine Fläche von 500 Quadratmetern anbieten, in der Mülberger Straße steht neben der Burg ein schwierig zu bebauendes Grundstück zur Disposition. Unterm Strich rechnet die Verwaltung, dass auf diesen acht Flurstücken 123 Wohnungen für 370 Menschen entstehen können.

Für die ausgeschriebenen Grundstücke auf dem Bolzplatz in der Traifelbergstraße und für die Teilfläche des TV Hegensberg gibt es ebenso wie für die noch heftig umstrittenen Bauvorhaben auf dem Sportplatz des VfL Post in der Pliensauvorstadt und im Greut noch keinen Bebauungsplan. Schneider über die nächsten Schritte: „Auf dem Zollberg und in Hegensberg werden wir auf der Grundlage der Ausschreibungsergebnisse in das Bebauungsplanverfahren einsteigen. Und fürs Greut hoffen wir, dass wir in der nächsten ATU-Sitzung den Beschluss bekommen, in die Planung einzusteigen.“ Den Teil des VfL-Post-Platzes, der bebaut werden soll, „werden wir im Laufe des nächsten halben Jahres gegen Konzept und Gebot ausschreiben“. Tatsache ist, dass von diesen vier Projekten mit 330 Wohnungen für rund 1000 Menschen - so sie denn alle kommen sollten - keine einzige Wohnung vor 2019/2020 bezogen werden kann.

Das Esslinger Wohnraumversorgungskonzept

Mit dem Wohnraumversorgungskonzept will die Stadt zügig Wohnungen im mittleren und niedrigeren Preissegment schaffen. Zielgruppen sind nicht nur Menschen mit Anspruch auf eine Sozialwohnung. Sondern auch Menschen mit einem mittleren Einkommen, das maximal 30 Prozent über den Einkommensgrenzen des Landeswohnraumförderungsgesetzes liegt, und die eine Miet- oder Eigentumswohnung suchen. (Beispiel: Zwei-Personen-Haushalt in Mietwohnung knapp 50 000 Euro, Einkommensgrenze für Eigentum bei Vier-Personen-Haushalt knapp 72 000 Euro (Stand 2013)).

Die Stadtvergibt ihre Bauplätze für Mehrgeschossbauten vorrangig gegen Konzept und Gebot. In der Regel kann der Bewerber über 25 Prozent der Wohnungen frei verfügen, ein Drittel der restlichen Wohnungen, die er dort baut, soll er für Sozialwohnungen, ein Drittel für Miet- und ein weiteres Drittel für Eigentumswohnungen für Menschen mit einem mittleren Einkommen zur Verfügung stellen. Weitere wohnungspolitische Vorgaben zielen auf besondere Bau- und Wohnformen (insbesondere Baugruppen), energetische Pilotprojekte und städtebauliche Aspekte.

Investoren auf privaten Grundstücken, für die das Planungsrecht neu geschaffen oder wertsteigernd ausgebaut wird, dürfen als Investitionsanreiz über 33 Prozent des geschaffenen Mehrwerts frei verfügen. Die restlichen zwei Drittel des Mehrwerts müssen sie zu mindestens 20 Prozent dafür verwenden, Wohnraum für die genannten Zielgruppen zu schaffen. In der Regel sollen davon ein Drittel Wohnungen mit Belegrechten sein. Zudem müssen sie die Kosten für die neue Planung und eine barrierearme Erschließung sowie für städtebauliche und energetische Anforderungen übernehmen.