Eine Zwangslage: Das Kind ist krank und muss betreut werden. Am Arbeitsplatz der Eltern setzt es dann oft Probleme. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

„Immer müssen wir deine ­Arbeit miterledigen, bloß weil das Kind schon wieder krank ist.“ Um Konflikte zu vermeiden, melden sich viele selbst krank, wenn in Wahrheit das Kind krank ist.

Von Martin Mezger

Esslingen - Blieb mal wieder nur die Notlüge. Sandra Z. hat sich krank gemeldet, obwohl sie kerngesund ist. Krank ist ihr Kind - zu oft schon in diesem Jahr. Der Chef habe mit Kündigung gedroht, sagt die alleinerziehende Mutter. Mit der Notlüge hilft sie sich aus der Zwangslage, denn gegen eigene Krankheit ist arbeitsrechtlich kein Kraut gewachsen. Darüber reden will Sandra Z. selbstverständlich nur unter der Zusicherung strikter Anonymität. Deshalb ist ihr Name - wie der aller Betroffenen in diesem Artikel - geändert.

Manche Themen gleichen eben einem Gespenst. Sie spuken allenthalben durch den Alltag, betreffen viele, liegen auf der Hand und sind doch kaum zu greifen. Dazu gehören die Probleme, mit denen berufstätige Eltern - erst recht alleinerziehende Mütter oder Väter - im Fall einer Krankheit ihrer Kinder konfrontiert sind: Probleme mit Vorgesetzten oder Kollegen wegen der Fehlzeiten, mit der zu organisierenden Betreuung der kleinen Patienten, mit finanziellen Einbußen; Probleme allesamt, die nur selten das Licht öffentlicher Fragestellung erblicken. Jendrik Scholz etwa, Abteilungsleiter Arbeits- und Sozialpolitik beim DGB Baden-Württemberg, räumt freimütig ein, dass „diese Thematik bei uns noch nicht aufgeschlagen ist.“ Von Gewerkschaftsmitgliedern werde sie allenfalls im Rahmen der Rechtsberatung nachgefragt. Auch Peter Herzberg, Esslinger Fachanwalt für Arbeitsrecht, sagt, dass unter den Anliegen seiner Mandanten der Krankheitsfall eines Kindes keine Rolle mehr spiele („früher musste ich gelegentlich einen Arbeitgeber auf die geltende Regelung hinweisen“). Also geht - trotz Sandra Z.’s Beispiel - alles seinen geordneten erwerbstätigen Gang? Mitnichten.

Die geltende Regelung (siehe Infotext) hat ihre Pferdefüße - allen vollmundigen politischen Bekenntnissen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Trotz. Sabine Speidel, die sich als Sozialdiakonin im Evangelischen Kirchenbezirk Esslingen um Alleinerziehende kümmert, kennt die Reibungsflächen zwischen Recht und Realität. In ihrer Klientel ist Sandra Z. kein Einzelfall, sondern spiegelt exemplarisch ein Hauptproblem: die Befristung der Fehlzeit am Arbeitsplatz auf maximal zehn - für Alleinerziehende 20 - Tage pro Jahr. Die Notlügen-Lösung scheint verbreiteter Usus zu sein: „Ja, ich habe mich manchmal selbst krank gemeldet“, sagt Claudia G. Auch Friederike K. gibt zu: „Das habe ich auch schon gemacht.“ Und sie sind nicht die einzigen. Andere, wie Frauke W., nehmen bei Kinderkrankheit Urlaub, Regina A. wiederum ist mit vorgesetzter Willkür konfrontiert: Statt der 20 Tage Freistellung „gewährt mir mein Arbeitgeber nur zehn“. Vereinzelt gibt es allerdings auch löbliche Gegenbeispiele. So sagt etwa Rainer H., einer der wenigen alleinerziehenden Väter: „Ich hatte bei meinem Arbeitgeber nie Probleme bei einer Krankheit meines Kindes.“

Zweiter Knackpunkt der geltenden Rechtslage sind finanzielle Einbußen. Da im Krankheitsfall eines Kindes kein gesetzlicher Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht, müssen etliche Arbeitnehmer mit dem geringeren Krankengeld auskommen. Für die alleinerziehende Frauke W. bedeutet das: „Wenn dann auch noch der Unterhalt nur unregelmäßig oder gar nicht kommt, gibt es täglich Spaghetti.“ Die auf Honorarbasis tätige Christine B. verzeichnet massive Abstriche bei Kinderkrankheit. Sie geht sobald wie irgend nur möglich wieder arbeiten, auch wenn gefühlsmäßig noch ein oder zwei Tage Kinderbetreuung angesagt wären. Auch Rainer H. merkt die geringeren Beträge auf dem Konto, aber „das fällt bei mir nicht so ins Gewicht, weil ich gut verdiene“.

Natürlich gibt es zu alldem keine zuverlässigen Statistiken - nicht zu finanziellen Schwierigkeiten und erst recht nicht zu jener „Dunkelziffer“ bei Krankmeldungen, hinter denen in Wahrheit eine Erkrankung des Kindes steckt. Sandra Z. führt jedoch noch einen weiteren Gesichtspunkt an: „Weil ich mit meinem Ex das gemeinsame Sorgerecht habe, stehen mir nur zehn Tage Freistellung zu. Mein Ex war aber nicht bereit, seine zehn Tage zu nehmen.“ Wenigstens diese Ungleichheit in der geschlechtlichen Rollenverteilung belegt eine Erhebung der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) aus dem Jahr 2015. Ihr zufolge entfielen die „Kinderkrankentage“, die von KKH-Mitgliedern genommen wurden, bundesweit zu 81 Prozent auf Mütter. Schlusslicht bei betreuenden Vätern war mit 14 Prozent Baden-Württemberg, Spitze Hamburg mit 24 Prozent. Jan-Lennart Löffler, Pressesprecher der AOK Neckar-Fils, weist daraufhin, dass die entsprechenden bundesweiten Zahlen bei der AOK immerhin einen Anstieg von 25 Prozent betreuender Väter im Jahr 2012 auf 29 Prozent im Jahr 2016 ergeben.

Das Fehlzeit-Thema hat indes auch eine Dimension, die rechtlich nicht zu regeln, in Statistiken nicht zu fassen ist - und die Karrieristen ebenso betrifft wie Minijobber. Diese Dimension ist mit dem Wort „Betriebsklima“ nur allzu vage umschrieben, sie wurzelt tief in der psychosozialen Befindlichkeit unserer Patchwork- und Gender-Gesellschaft, gespiegelt in der Reaktion der Kollegen. Sigrid Grantner vom Landesverband Baden-Württemberg des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter hört von Betroffenen oft: „Der Chef hat sogar Verständnis, aber die Kollegen... Da heißt es dann: ,Immer müssen wir deine Arbeit miterledigen, bloß weil das Kind schon wieder krank ist.‘“ Viele Alleinerziehende aus Sabine Speidels Gruppe berichten von ähnlichen Erfahrungen, manche sehen sich gar als Opfer von Mobbing. Die Fronten verlaufen freilich unübersichtlich: zwischen Alleinerziehenden und denen, die einen Partner zur Seite haben, aber auch zwischen berufstätigen Müttern oder Vätern und Kinderlosen, die ja keineswegs immer wunschgemäß kinderlos sind. Womit die Frontlinie in jene psychologisch heikle Zone mündet, wo sich jenseits von Neid-Unterstellungen und Ungerechtigkeitsvorwürfen kaum eine verbindliche Aussage treffen lässt.

Scheut so die Problematik aus komplexen Gründen das Licht klarer Worte, ist sie doch bei einem Anlass allgegenwärtig: Laut Sigrid Grantner werden Alleinerziehende „in praktisch jedem Vorstellungsgespräch gefragt: ,Was tun sie, wenn ihr Kind krank ist?‘“ Gemäß der - siehe oben - immer noch gängigen Rollenverteilung kennen auch viele in Paarbeziehungen lebenden Mütter diese K.o.-Frage. „Vor allem gut Qualifizierte“, sagt Grantner, „überlegen, ob sie beim Vorstellungsgespräch ihren Familienstatus verschweigen sollen.“ Womit sie einen weiteren Aspekt anspricht: Höher qualifizierte Tätigkeiten machen kranke Kinder erst recht zu einem unkalkulierbaren Berufsrisiko - etwa wenn wichtige Termine auf dem Spiel stehen.

In solchen und anderen Situationen kommt oftmals eine andere Notlüge zum Einsatz, bevor es am Arbeitsplatz knirscht und kracht: die vom angeblich gesunden Kind, das mit schlechtem Gewissen und fiebersenkenden Medikamenten in der Kita abgeliefert wird. „Jede Kita kann davon berichten“, sagt Grantner. Bea Torlitz, Abteilungsleiterin Kindertageseinrichtungen bei der Stadt Esslingen, bestätigt das, fügt aber vorsichtig hinzu: „Über die Hintergründe will ich nicht spekulieren.“ Muss man auch nicht, sie sind offenkundig. Und nichts ist leichter, als das Verhalten der Eltern als verantwortungslos zu brandmarken. Nur: Grantner weiß von „heulenden Müttern, die ihr krankes Kind aus der Kita wieder abholen und gleichzeitig berichten, was sie sich am Arbeitsplatz anhören mussten“.

Fazit von alldem: Die Solidargemeinschaft mit Kranken bröckelt, wenn es um kranke Kinder geht. Die rechtlichen Regelungen sind unzureichend, der soziale Umgang mit Betroffenen ist oftmals diskriminierend. Es besteht Handlungsbedarf.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, wegen Erkrankung Ihrer Kinder Probleme am Arbeitsplatz oder finanzielle Einbußen hatten, teilen Sie uns dies bitte mit unter der Mail-Adresse: online.redaktion@ez-online.de

regelungen im Krankheitsfall eines Kindes

Eine Freistellung von maximal zehn Arbeitstagen pro Kind, Jahr und Elternteil (also 20 Tage für Alleinerziehende) muss der Arbeitgeber laut gängiger Rechtssprechung gewähren, wenn ein unter zwölf Jahre altes Kind des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin krank ist und ein Kinderarzt Betreuungsbedarf bescheinigt. Bei mehreren Kindern sind es höchstens 25 beziehungsweise 50 Tage. Für Beamte gilt eine strengere Sonderregelung.

Bei längerer Krankheit der Kinder gibt es keinen Anspruch auf Freistellung mehr (außer im Fall schwerstkranker Kinder). Die Eltern müssen dann selbst die Betreuung organisieren und eventuell auch bezahlen. Die Krankenkasse übernimmt diese Kosten nicht. Im äußersten Notfall sieht das Sozialgesetzbuch eine Betreuungshilfe vor, die beim Jugendamt beantragt werden kann.

Die Lohnfortzahlung ist gesetzlich nur bei eigener Erkrankung gesichert, nicht aber bei der eines Kindes. Ein Teil der Arbeitnehmer bekommt jedoch auch in diesem Fall den vollen Lohn. Andere Arbeits- oder Tarifverträge wiederum schließen dies aus, teilweise verschlüsselt in indirekten Formulierungen wie „Nur tatsächlich geleistete Arbeit wird vergütet“. In solchen Fällen erhalten in den gesetzlichen Krankenkassen versicherte Arbeitnehmer bei Krankheit eines Kindes Krankengeld. Es beträgt 90 Prozent des Nettogehalts, gedeckelt auf maximal 101,50 Euro pro Tag. Davon werden Sozialversicherungsbeiträge abgezogen, so dass unter Umständen ein wesentlich geringerer Betrag überwiesen wird. Privat Versicherte haben keinen Krankengeld-Anspruch, sie müssten entsprechende Zahlungen über eine Zusatzversicherung vereinbaren.