Eingespieltes Team: An der Essensausgabe arbeiten die Mitarbeiter Hand in Hand, damit jeder schnell seine Mahlzeit bekommt. Quelle: Unbekannt

Es ist ein wirklich ungewöhnlicher Ort, um Rinderbraten mit Spätzle zu essen: Himmelwärts strebende, monumentale Steinpfeiler flankieren die dunkelbraunen Gebetsbänke. Zwischen ihnen stehen große Tische, über denen ein orangefarbenes Wachstuch liegt, mehrere Wassergläser und Blumen stehen auf ihnen. Durch die bunten Fenster, die biblische Szenen zeigen, dringt ein wenig Licht in das dunkle Gewölbe. Normalerweise ist es in der Esslinger Frauenkirche ruhig, ein Ort der Andacht und Stille, wo man Schritte über den Steinboden hallen hört und lieber flüstert, wenn man etwas zu sagen hat.

Aber nicht heute. Es ist „Vesperkirche“ und das heißt, dass viele hungrige Gäste bewirtet werden müssen. Auf der Speisekarte stehen an diesem Tag Salat und klare Brühe mit Eifäden und Lauch als Vorspeise. Beim Hauptgang können die Gäste zwischen dem vegetarischen Graupenrisotto mit gebratenen Champignons oder geschmortem Rinderbraten mit Spätzle und Wurzelgemüse wählen. Für ein solches Essen bezahlt man 1,50 Euro - wert ist es 12 Euro. Zusätzlich gibt es Kaffee und Kuchen. Die Idee hinter der ökumenisch organisierten Vesperkirche ist es, die Menschen bei einer warmen Mahlzeit zusammenzubringen - egal ob jung oder alt, arm oder reich. Mehr als 50 ehrenamtliche Helfer sind an diesem Morgen gekommen, um bei der Vesperkirche mitzuarbeiten. Heute gehöre ich zu ihnen. Die meisten hier kennen sich schon, machen das nicht zum ersten Mal. Tatsächlich sind es vor allem ältere Frauen und Männer, die sich für einen Mittag die Schürzen umbinden - allerdings ist es auch Donnerstagvormittag, für Berufstätige also ein gewöhnlicher Arbeitstag. Zwischen all den Menschen taucht Julia Lay auf. Die 26-jährige Studentin hat einen Monat Puffer, bevor sie zu einer Reise nach Mexiko aufbricht. „Ich wollte bis dahin gerne etwas ehrenamtliches machen“, erzählt sie. So kam sie zur Vesperkirche.

Julia Lay erklärt mir geduldig den Tagesablauf und führt mich durch die Kirche: Direkt am Haupteingang ist die Essensausgabe aufgebaut. Bevor die Kellner zu den dampfenden Schalen gelangen, kommen sie an den Tischen mit Brot und Besteck, Salat und Suppe vorbei. Aber bloß nicht in die falsche Richtung laufen, die Essensausgabe ist sozusagen die Einbahnstraße des Tagesmenüs. Alles ist hier effizient organisiert, jeder kennt seine Aufgaben - eben wie in einem Restaurant. Anders wäre die Vesperkirche auch nicht zu bewerkstelligen.

Es ist kurz vor 12 Uhr. Die Mitarbeiter an der Essensausgabe stehen bereits an ihren Stationen; ich beobachte gemeinsam mit den anderen Kellnern am Eingang die vielen Menschen, die langsam in das Kirchenschiff strömen und sich an die nummerierten Tische setzen. Jedem von uns sind bestimmte Tische zugewiesen. An meinen fünf Tischen nehmen bereits mehrere Menschen Platz, bei jedem weiteren hoffe ich insgeheim, er setze sich vielleicht doch noch um. Was mir nämlich Sorge bereitet: Man sieht hier keinen Kellner mit Block oder Stift. Wie viele vegetarische Gerichte oder Sonderwünsche bestellt werden, sollte man sich also wohl besser gut merken. Mittlerweile spürt man die Anspannung, das Warten darauf, dass es endlich losgeht. Ich zähle noch einmal meine Gäste und versuche mich an Julia Lays Tipps zu erinnern. Zuerst einen Tisch nach dem anderen machen oder lieber mehrere gleichzeitig? Was war noch mal das Tagesmenü? Ein kurzer Atemzug noch, dann ist es soweit, die Kellner eilen los.

Eine Runde mit fünf Männern bestellt vier Mal Rindfleisch, einmal Graupenrisotto. Das ist leicht. Fünf Schälchen Salate und Suppen auf ein Tablett zu bekommen eher nicht. Nach einem ungeschickten Versuch, alles auf einmal auf das Tablett zu stellen, ist die Entscheidung getroffen: lieber zweimal gehen. Wer dachte, mehrere Suppen auf einem Tablett zu transportieren und gleichzeitig schnell gehen zu können, ohne dass ein kleines Missgeschick passiert, der irrt sich. Nach der ersten Hälfte Salat und Suppe für Tisch Nummer eins möchten aber Gäste an den Nachbartischen bestellen, also versuche ich mir neben der ersten, halb fertigen Bestellung, noch die neuen zu merken. Ach ja, und unbedingt an eine neue Serviette denken, die alte hat das Suppen-Unglück leider nicht trocken überstanden. Den Männertisch stört es unterdessen nicht, dass das Essen in zwei Fuhren kommt. Auch, dass es etwas länger dauert, bis die warme Hauptspeise folgt, sei in Ordnung, versichern sie freundlich.

An der Essensausgabe ist eine Schlange entstanden, hin und wieder huscht jemand mit einem Tablett voller Salaten an den Wartenden vorbei. Auch Julia Lay ist wieder aufgetaucht. Sie stellt sich an, das Tablett vor der Brust, und lächelt. „Es läuft gut“, sagt sie schlicht. Hinter der Essensausgabe ruft der Küchenchef „die Tür immer freihalten!“, als die Schlange der Kellner droht, den Durchgang zwischen Salattheke und Hauptspeise zu verstopfen. An der Essensausgabe angekommen, stapelt ein Mitarbeiter drei Teller auf mein Tablett, der letzte hängt gefährlich schief auf den anderen. „Das geht schon. Und wenn nicht, dann hören wir es ja gleich“, sagt der Mann mit einem Augenzwinkern. Steif schleiche ich zu meinen Tischen zurück, immer wieder auf den klappernden Teller schielend, der auffällig wackelt. Ich hoffe inständig, dass keiner der rasch vorbeieilenden Kellner aus Versehens gegen mein Tablett stößt.

Es ist laut in der Kirche geworden, Menschen unterhalten sich während des Essens, überall eilen Helfer in langen weißen Schürzen an den Bänken vorbei, räumen Geschirr ab, bringen neues und füllen die leeren Gläser wieder mit Wasser auf. Eine Frau mit dunklen Haaren beschwert sich: „Das Fleisch war zu trocken.“ Trotz des ungewöhnlichen Ortes: Es geht hier zu, wie in einem Restaurant. Den meisten scheint es aber zu schmecken. Ein Mann lässt etwas Geld auf dem Tisch liegen, als er geht.

Nach einer Stunde, um 13 Uhr, stoppt für einen kurzen Zeitraum die Essensausgabe. Es ist Mittagsandacht, plötzlich wird es ganz still. Die weiß-beschürzten Mitarbeiter ziehen sich an den Eingang der Kirche zurück. Zeit für eine kurze Verschnaufpause. Danach wird es ruhiger, der größte Ansturm ist vorbei. Einige Gäste bestellen noch eine zweite Portion, andere nehmen sie mit nach Hause. Eine ältere Frau fragt fast schon entschuldigend nach einer Tasse Kaffee. „Ich kann nicht mehr so gut laufen. Können Sie mir bitte einen Kaffee mit etwas Milch bringen?“ Als ich ihr die Tasse reiche, lächelt sie herzlich. Gestern wollte sie eigentlich auch kommen, erzählt sie, aber ihre Krankheit habe es nicht zugelassen. Die gebürtige Kroatin muss Medikamente nehmen, um ihre Schmerzen zu lindern und auch das gelingt nur kurz. Als sie von ihrer Einsamkeit und ihrer kranken Tochter erzählt, treten ihr kurz Tränen in die Augen. Dann aber lächelt sie. „Vielleicht komme ich morgen wieder, wenn es geht.“