Von Alexander Maier

Für Esslinger Schüler ist der Weg ins nächste Theater nicht weit - die Württembergische Landesbühne lockt das junge Publikum mit vielen originellen Angeboten. Noch reizvoller ist es jedoch, wenn die WLB zu ihren jungen Zuschauern kommt. Mit den Klassenzimmerstücken wurde vor Jahren ein Format entwickelt, das Theater für Kinder und Jugendliche zu einem hautnahen Erlebnis macht. Wie spannend es sein kann, wenn ein Klassenraum zur Bühne wird, erlebte gestern die Klasse 3c der Esslinger Pliensauschule. Dort feierte das neue Klassenzimmerstück „Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy“ Premiere. Und die staunenden Drittklässler ließen sich nur zu gern in die Wunderwelt von Schauspiel und Literatur entführen.

Begegnung auf Augenhöhe

Gewöhnlich stehen Mathematik, Deutsch oder Sport auf dem Stundenplan - dass im Klassenzimmer Theater gemacht wird, war für alle eine neue Erfahrung. „Wir waren mit meiner Klasse schon mal in der WLB und haben uns ‚Peter Pan’ angeschaut“, erzählt Lehrerin Stefanie Woitzik. „Dass das Theater zu uns kommt, ist für alle ungewohnt.“ Für ihre Drittklässler war der gestrige Vormittag voller Überraschungen: Als sie nach der Pause ins Klassenzimmer kamen, lagen dort Bücher verstreut auf dem Boden und mittendrin eine Decke, die sich geheimnisvoll bewegte. Und während die Drittklässler noch rätselten, lugte plötzlich ein kleiner Actionheld aus Plastik unterm Tuch hervor, dem wenig später Tim und sein Bruder Marty folgten, der eine neun, der andere zehn Jahre alt.

Die beiden, gespielt von Alessandra Bosch und Daniel Großkämper, fühlten sich ziemlich unwohl: Weil sie daheim im Wohnzimmer mit ihren Freunden gar zu wild getobt hatten, wurden Tim und Marty von ihren Eltern dazu verdonnert, während der Ferien den Nachmittag in der Bücherei zuzubringen. Was andere als das allergrößte Vergnügen empfinden würden, war für Tim und Marty die schlimmste Strafe, schließlich war für sie klar: „Es gibt keinen schlimmeren Ort als die Bücherei.“Und die Bibliothekarin Mrs. Murphy, die mit Kartoffeln auf unfolgsame Kinder schießt, macht alles noch schlimmer. Doch mit Vorurteilen ist das so eine Sache: Schaut man nur lang genug hin, lösen sie sich oft in Wohlgefallen auf - so wie bei Tim und Marty in Eoin Colfers Kinderbuch „Tim und das Geheimnis der Knolle Murphy“, das Regisseurin Konstanze Kappenstein als Klassenzimmerstück für die ersten bis dritten Klassen inszeniert hat. Je länger die beiden Jungs ihre selbst verordnete Langeweile in der Bücherei zelebrierten, desto neugieriger wurden sie auf das, was sie dort zwischen Buchdeckeln entdeckten. Mehr und mehr wurde ihnen klar, dass die Lektüre von „Pippi Langstrumpf“, „Robinson Crusoe“, „Peter Pan“ oder „Robin Hood“ viel spannender sein kann als stupide Spiele mit Actionfiguren. Dass Bibliotheken voller Überraschungen stecken. Dass die strenge Mrs. Murphy in Wahrheit ein Herz für Kinder hat. Und dass Lesen nicht nur Pflicht im Schulunterricht ist, sondern auch das Tor zu einer Welt der Fantasie und Kreativität zu öffnen vermag.

Das neue Klassenzimmerstück der Esslinger Landesbühne trifft den richtigen Ton fürs junge Publikum. Kein Wunder, dass Klassenlehrerin Stefanie Woitzik hinterher mit ihren Schülern um die Wette strahlte: „Es ist total schön, wenn das Theater ins Klassenzimmer kommt. Die Kinder erleben etwas Neues in gewohnter Umgebung. So können sie einen viel direkteren Zugang zum Theater bekommen.“

Viel Gespür fürs junge Publikum

Dass Konstanze Kappensteins Inszenierung so gut ankam, lag nicht nur am Konzept der Regisseurin, sondern auch an den Darstellern: Alessandra Bosch und Daniel Großkämper spielten mit solcher Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit, dass sie ihren jungen Zuschauern das Gefühl vermittelten, sie hätten es mit Gleichaltrigen zu tun. „Die beiden haben ein großartiges Talent fürs Improvisieren und für den richtigen Umgang mit Kindern“, lobt Theaterpädagogin Daniela Urban. Doch das gehört dazu, wenn die WLB mit ihren Klassenzimmerstücken oder ihrer Lesekiste regelmäßig Schulen ansteuert. „Solche Stücke lassen sich mit relativ geringen Mitteln aufführen und sind eine wunderbare Möglichkeit, Kinder mit dem Theater vertraut zu machen“, erklärt Regisseurin Konstanze Kappenstein. „Für viele sind diese Aufführungen die erste Begegnung mit dem Theater. Und wenn sie erst mal gesehen haben, wie viel Spaß das machen kann, kommen manche hinterher auch gern zu uns.“