Der Schwerbehindertenausweis soll die Nachteile, die Behinderte in Kauf nehmen müssen, wenigstens ein bisschen ausgleichen.  Foto: Jens Schierenbeck/dpa/gms - Jens Schierenbeck/dpa/gms

Behinderungen sollen künftig anders beurteilt werden, nicht mehr allein medizinisch. Dazu läuft ein Anhörungsverfahren zum Sozialgesetzbuch. Jeder achte Einwohner im Landkreis Esslingen gilt als behindert und mitunter ist Kritik zu vernehmen, dass die Behörden zu großzügig Schwerbehindertenausweise ausstellen. Ein Blick in die Praxis relativiert diesen Eindruck.

Von Peter Dietrich

Der Landkreis Esslingen zählt rund 520 000 Einwohner. Unter ihnen wurden, Stand Anfang Mai, 40 740 Schwerbehindertenausweise ausgegeben, mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 Prozent. Von diesen Ausweisen sind derzeit rund 37 500 gültig, die anderen müssten verlängert werden. Hinzu kommen mehr als 22 000 Menschen mit einem GdB von 20 bis 40 Prozent, gewertet wird immer in Zehnerschritten. Es gibt also im Landkreis rund 63 000 Menschen, die als behindert gelten. Das ist immerhin jeder achte Einwohner.

„Wir bewerten die Funktionseinschränkung“, sagt Alexander Seitz, Sachgebietsleiter im Landratsamt. Manchmal ist die Situation eindeutig, etwa wenn jemand ein Auge verloren hat. Auf der anderen Seite kann sich eine identische Beeinträchtigung bei verschiedenen Menschen unterschiedlich auswirken: So sind zum Beispiel nicht alleine die Beine entscheidend, sondern auch das Körpergewicht. Einschränkungen, die für das jeweilige Alter typisch sind, werden nicht berücksichtigt, auch vorübergehende Gesundheitsstörungen, die voraussichtlich innerhalb von sechs Monaten heilen werden.

Dünne Personaldecke

Im Vorjahr gingen im Landratsamt mit Erstanträgen und Neufeststellungen fast 10 000 Anträge ein, um die sich 15 Sachbearbeiter kümmern. Sind alle medizinischen Unterlagen vollständig, dauern das Aktengutachten des Gesundheitsamts und der Bescheid etwa zwei Wochen. Weil die Kapazitäten des Gesundheitsamts nicht reichen, beauftragt dieses auch externe Gutachter. Körperliche Begutachtungen sind aber sehr selten, sie gibt es vor allem bei Gehbehinderungen. Der Sozialmedizinische Dienst des Gesundheitsamts macht dem Landratsamt einen Vorschlag für einen Bescheid. In mehr als 99 Prozent aller Fälle, sagt Seitz, seien sich Gesundheitsamt und Landratsamt einig. Nachfragen und Diskussionen seien „absolute Ausnahmen“.

„In der Regel fehlen aber Unterlagen, oder sie sind nicht geeignet“, sagt Seitz. Deshalb dauere das Verfahren im Durchschnitt drei Monate. Das Landratsamt fordert dann bei den Ärzten des Antragstellers die nötigen Unterlagen an, manchen Arzt muss es mehrmals erinnern. Seitz hat Verständnis dafür, dass für die Ärzte Behandlungen vorgehen. „Manche Ärzte machen das samstags, wenn die Praxis zu ist.“ Manchmal bekommt das Amt nur eine Diagnose, die keine Auskunft über die Funktionseinschränkung gibt, manchmal gibt ein Arzt gar keine Auskunft. „Wir könnten einen Arzt vor Gericht zerren und zur Aussage zwingen“, sagt Seitz, der aber auf einen einvernehmlichen Umgang Wert legt.

Bei den 3409 Erstanträgen im Jahr 2015 hat das Landratsamt in 1844 Fällen, also gut der Hälfte, einen Schwerbehindertenausweis ausgestellt. Die anderen Bescheide reichten von einem GdB von 40 Prozent bis hinunter zu Null. Menschen mit einem Behinderungsgrad von 30 oder 40 Prozent können mit Schwerbehinderten gleichgestellt werden, etwa wenn ihnen der Verlust des Arbeitsplatzes droht. In diesem Fall spricht die Agentur für Arbeit die Gleichstellung aus, es gibt aber deshalb keinen Schwerbehindertenausweis.

Wer keinen Ausweis erhält, oder nicht das erwünschte Merkzeichen (siehe Anhang), kann Widerspruch einlegen. Das taten im Jahr 2015, bei Erstanträgen und Neufeststellungen zusammen, gut 18 Prozent der Antragsteller. Dann gehen die Akten im Landkreis Esslingen – das ist bundesweit nicht überall so – im Landratsamt an einen anderen Sachbearbeiter und im Gesundheitsamt an einen anderen medizinischen Gutachter. Gibt es dann keinen Abhilfebescheid, werden die Akten im Regierungspräsidium von einer weiteren Person gesichtet und von einem dritten Gutachter bewertet.

Bei einer Ablehnung des Widerspruchs kann der Antragssteller beim Sozialgericht Stuttgart klagen, kostenfrei und ohne Anwaltspflicht. Genaue Zahlen dazu werden gerade erfasst, die Schätzung des Landratsamts liegt bei vier Prozent der Anträge. Manchmal zieht das Gericht einen Gutachter hinzu, der eine medizinische Untersuchung vornimmt. Etwa jede zweite Klage wird zurückgenommen, sehr oft gibt es einen außergerichtlichen Vergleich. So kann es sein, dass sich der gesundheitliche Zustand während des Verfahrens verschlechtert hat. Formal geht es zwar um die Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt, aber das Landratsamt sieht das pragmatisch.

Wie schätzt Alexander Seitz persönlich die derzeitige Praxis ein? „Das ist angemessen“, sagt er. „Manche sagen, das geht zu weit, jeder achte Mensch mit einer Behinderung, das war früher nicht so.“ Seitz findet auf der anderen Seite auch nicht, dass die Einstufung zu streng gehandhabt wird. Doch ihm ist zugleich klar: „Viele empfinden das anders, wenn man selbst betroffen ist.“

Auf die Merkzeichen kommt es an

Entscheidend beim Schwerbehindertenausweis sind die sogenannten Merkzeichen. Am häufigsten ist das Merkzeichen G, es steht für „gehbehindert“. Weit seltener, aber am begehrtesten ist das Merkzeichen aG, für „außergewöhnlich gehbehindert“. Es ist im Landkreis Esslingen auf etwa jedem elften gültigen Ausweis zu finden.

Parkplakette: Mit dem Merkzeichen aG kann bei den Straßenverkehrsbehörden die blaue Parkplakette beantragt werden. Auch Blinde mit dem Merkzeichen Bl erhalten diese Parkplakette. Sie ist hilfreich, wenn Blinde gefahren werden.

Begleitperson: Knapp jeder vierte Behindertenausweis trägt das Merkzeichen B. Mit ihm kann der Inhaber in öffentlichen Verkehrsmitteln, auch im Bahn-Fernverkehr und eventuell bei Inlandsflügen deutscher Fluggesellschaften, kostenlos eine Begleitperson mitnehmen. Das Merkzeichen Gl steht für gehörlos, das Merkzeichen H für hilflos. Das Merkzeichen RF bringt eine Ermäßigung des Rundfunkbeitrags und ist nicht mehr so gefragt wie früher. Kaum noch vorhanden ist die Erlaubnis für Schwerkriegsbeschädigte, in der Bahn die Erste Klasse zu benutzen.

Prüfung: „Wir prüfen alle Merkzeichen, nicht nur die beantragten“, sagt Alexander Seitz vom Landratsamt. Ein Großteil derer, die für einen Eigenanteil von 80 Euro pro Jahr oder 40 Euro im Halbjahr eine Wertmarke für den öffentlichen Nahverkehr erwerben, hat das Merkzeichen G. ALG II-Empfänger mit Merkzeichen G, Blinde und Hilflose erhalten diese Wertmarke ohne Eigenanteil. Sie gilt im Nahverkehr bundesweit.