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Von Claudia Bitzer
Als Michael Burgenmeister gestern Morgen um 6.30 Uhr seinen Computer im Theodor-Heuss-Gymnasium hochgefahren hat, war er erleichtert. Der Leiter des Esslinger THG fand keine Mail vor, dass die Abiturfragen im Fach Deutsch auch noch kurzerhand ausgetauscht werden mussten.
Wer weiß: Wenn nicht Unbekannte in der Nacht zum 11. April den Tresor des Weilimdorfer Solitude-Gymnasiums aufgeflext und die Umschläge mit den Abiaufgaben in Mathematik und Englisch geöffnet hätte, hätten die Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien im Land vielleicht gar nicht groß gemerkt, dass in diesem Jahr etwas anders ist als sonst. Die Abiturienten an den allgemeinbildenden Gymnasien hätten sich vielleicht gewundert, dass nach dem traditionellen Auftakt mit dem Fach Deutsch am Tag darauf nicht wie üblich Mathe folgt. Und ihre Leidensgenossen an den beruflichen Schulen hätten sich vermutlich gefragt, warum in diesem Jahr Deutsch als letztes Fach abgeprüft wird.

Büchner oder Pörksen?

Der Einbruch in die Weilimdorfer Schule hat aber jedem verdeutlicht, dass sich die Gymnasien im Land in diesem Jahr erstmals in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch aus einem bundesweiten Abituraufgabenpool bedient haben. Und dass sich die betroffenen Länder damit nicht nur auf eine einheitliche Zeitschiene einigen mussten. Sondern dass mit dem vorzeitigen Auffliegen der Aufgaben nicht nur die baden-württembergischen, sondern auch andere Schulen im Bundesgebiet die Mathematik- und Englischaufgaben austauschen mussten.
In Deutsch war das wie gesagt nicht der Fall. Tabea Herrmann (19) aus Reichenbach gehörte zu den ersten, die gestern Mittag ihre Klausur abgegeben hat. Sie hat sich für die Erörterung des Textes „Wir Tugendterroristen“ entschieden, in dem sich der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der „Zeit“ mit der medialen Verbreitung von Skandalen und der moralischen Empörung darüber im Zeitalter des weltweiten Netzes auseinandersetzt. Der als relativ sicher geltende Werkvergleich, in dem die Schülerinnen und Schüler eine zwei Seiten lange Textstelle aus Max Frischs „Homo faber“ interpretieren und anschließend die Selbstbilder der Protagonisten Faber und Danton aus Georg Büchners „Dantons Tod“ untersuchen sollten, kam für sie nicht in Frage. Zum Büchner-Werk hat sie nie einen richtigen Zugang gefunden, sagt sie.
Sophia Gose aus Esslingen hat sich am Tag ihres 18. Geburtstags indessen sofort für den Werkvergleich entschieden – und nach fünf Stunden und 15 Minuten sowie zwölf beschriebenen Seiten abgegeben. Von dem Geburtstagskuchen, den ihr die Freundin in die Prüfung mitgegeben hat, fehlte noch so gut wie nichts. „Aber am Abend gehen wir essen.“
Pierre Stevenoot (19) hat sich an die Interpretation der Erzählung „Auf der Felsenkuppe“ von Christoph Meckel gewagt. „Da habe ich auch bei den Klassenarbeiten immer meine besten Noten gemacht, so der Esslinger. Jakob Krämer (18), ebenfalls aus Esslingen, hat sich mit dem Gedichtsvergleich zum Sternchenthema Naturlyrik auseinandergesetzt. Nicht aus romantischen, sondern aus sehr rationalen Gründen: Da müsse man sich sehr viel weniger vorbereiten als auf den Werkvergleich und arbeite dennoch mit und anhand von Texten. Jan Schlegel (19) aus Stuttgart hat den Essay zur „Macht der Sprache“ gewählt. Eine immer etwas riskante Gattung, bei der man sich auf mitgelieferte Texte stützen kann, aber nicht muss. Wie aus zuverlässigen Kreisen zu hören war, stammt das Essaythema aus besagtem bundesweiten Abi-Aufgabenpool, der trotz Länderhoheit für mehr Gerechtigkeit im bundesdeutschen Bildungswesen sorgen soll.

Spekulationen vor dem Mathe-Abi

THG-Chef Burgenmeister wusste das gestern allerdings noch nicht. Er wird es aber nach der Korrekturphase auf jeden Fall erfahren. Denn seine Schule gehört zu landesweit 20 Gymnasien, die für das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich, das den Aufgabenpool entwickelt hat, die Ergebnisse evaluieren sollen. Seine Schülerinnen und Schüler hat allerdings eher die Frage beschäftigt, ob das Mathe- und Englischabitur nun schwerer wird, wenn man jetzt nicht mehr auf die eigentlich geplanten Aufgaben zugreifen kann. „Das ist bei uns sehr heftig diskutiert worden“, erzählen Ronja Pos, Janka Kaiser und Nasanin Mehri. Denn aufgrund der Kürze der Zeit und des Aufwands kommen nun die Aufgaben zum Zug, die eigentlich für die Nachschreiber im Land gedacht waren. „Und die gelten als schwieriger“, bestätigt Manuel Korn die Befürchtungen, die auch der Landesschülerbeirat schon geäußert hat. Michael Burgenmeister, zugleich Vorsitzender der Direktorenvereinigung Nordwürttemberg vielsagend: „Die Aufgaben sollten gleichwertig sein.“ „Man muss ohnehin nehmen, was kommt“, wissen alle. Und noch in einem sind die THGler einig: Dass Mathe erst am 3. Mai kommt und man noch ein paar Tage zum Lernen hat, ist völlig in Ordnung.


Deutsch-Abitur 2017 auf einen Blick

Rund 1350 Schülerinnen und Schüler nehmen in diesem Jahr an den allgemein bildenden Gymnasien im Kreis Esslingen an der Abiturprüfung teil, davon knapp 400 in der Stadt Esslingen. An den beruflichen Schulen im Kreis sind es mehr als 600. Gestern saßen die Schülerinnen und Schüler ab 8 Uhr an ihren Aufgaben im Fach Deutsch, für die sie bis 13.30 Uhr Zeit hatten.

Aus fünf vorgelegten Themen mussten sie eines auswählen und bearbeiten.

  • Interpretation einer Textstelle aus Max Frischs „Homo faber“. Daran schließt sich eine vergleichende Betrachtung von Max Frischs Roman mit Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ an. (Untersucht werden sollten die Selbstbilder von Walter Faber und Georg Danton.)
  • Eine vergleichende Interpretation zu den Gedichten „Herbstgefühl“ von Georg Britting (1891-1964) und „Der Herbst des Einsamen“ von Georg Trakl (1887-1914).
  • Interpretation der Erzählung „Auf der Felsenkuppe“ von Christoph Meckel (geb. 1935).
  • Erstellung eines Essays auf der Grundlage eines vorgelegten Dossiers mit verschiedenen Texten. Die Schülerinnen und Schüler verfassen einen Essay mit dem Titel „Die Macht der Sprache“.
  • Den Prüflingen der allgemein bildenden Gymnasien stand als fünftes Thema zur Auswahl: Analyse und Erörterung des Textes „Wir Tugendterroristen“ von Bernhard Pörksen (in: Die Zeit 8.11.2012). Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Position des Autors zur medialen Verbreitung von Skandalen und der moralischen Empörung darüber im Internet-Zeitalter auseinander.
    Den Abiturienten der beruflichen Gymnasien stand als fünftes Thema zur Auswahl: Analyse und Erörterung des Textes „Sagen Sie alle Termine ab!“ von Patrick Spät (in: Die Zeit 7.8.2015). Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit den Argumenten des Autors auseinander und erörtern die Frage, inwieweit Leistung notwendig für ein erfülltes Leben ist.

Für die beruflichen Gymnasien im Kreis Esslingen hat Sprecher Thomas Fischle bereits eine Auswertung der Themen zusammengestellt. Von den 621 Abiturienten an den acht beruflichen Gymnasien unter Trägerschaft des Landkreises haben 418 das Deutschabitur geschrieben. Spitzenreiter in der Schülergunst war der Werkvergleich Frisch/Büchner (156), gefolgt von der Analyse und Erörterung des Texts „Sagen sie alle Termine ab!“ von Patrick Spät (88) und dem Essay „Die Macht der Sprache“ (65). Die Prosa-Textinterpretation von Meckels „Auf der Felsenkuppe“ lag mit 59 Bearbeitungen noch vor dem Gedichtsvergleich (50).

An den allgemein bildenden Gymnasien geht es heute mit diversen Kernfächern weiter. An den beruflichen Gymnasien wird das Schriftliche mit dem Fach Deutsch vollends abgehakt. Sie haben in diesem Jahr bereits am 30. März begonnen.

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