Ernst Schrade, intimer Kenner der Schulen im Kreis Esslingen. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Vor fünf Jahren hatte die damalige grün-rote Landesregierung die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft. Grün-Schwarz will die Verbindlichkeit zwar nicht wieder einführen. Aber die Eltern sollen die Empfehlungen bei der Anmeldung für die weiterführenden Schulen zum Schuljahr 2018/19 wieder vorlegen. Für Ernst Schrade, Leiter der Schulpsychologischen Beratungsstelle des Staatlichen Schulamts Nürtingen, steht zwar fest, dass Kinder am nachhaltigsten von Erfolgserlebnissen profitieren. Die Grundschulempfehlung sagt aus seiner Sicht über den Schulerfolg eines Kindes aber eher wenig aus.

Laut amtlicher Schulstatistik haben im Herbst immer noch sechs Esslinger Kinder mit einer Werkrealschulempfehlung an einem Gymnasium angefangen ...

Schrade: Nur sechs? Das finde ich unbedeutend.

Ja, aber dazu kommen immerhin 52 Schülerinnen und Schüler, die mit einer Realschulempfehlung aufs Gymnasium gegangen sind. Das entspricht einem Viertel aller Esslinger Realschulempfehlungen. Hat sich für Sie als Schulpsychologe, der für Schüler, Eltern und Lehrer da ist, seit Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung etwas verändert?

Schrade: Für uns hat sich nicht wirklich etwas verändert. Als die Grundschulempfehlungen noch verbindlich waren, ging oft ein sehr hoher Druck von den Eltern auf die Lehrkräfte aus. Sodass auch Empfehlungen zustande kamen, von denen die Lehrer nicht überzeugt waren. Sei es, um des lieben Friedens willen. Sei es in dem Wissen, dass die eigene Prognosefähigkeit ja nicht hinreichend ist. Man muss sich einfach klarmachen, dass in schwierigen Entscheidungsfällen die Fehlerquote ja auch extrem hoch ist. Und was ich sehr wichtig finde: Die Eltern tragen letztendlich die Verantwortung für die weitere Schullaufbahn ihres Kindes, nicht die Schule.

Aber wenn Diagnose und Prognose schon für die Lehrer schwierig sind, wie sollen denn die Eltern das dann auf die Reihe bekommen? Funktioniert denn die Beratung so, wie sie sollte?

Schrade: Ich kann das sicher nicht für den gesamten Grundschulbereich sagen. Es gibt einzelne Grundschulen, in denen es gut funktioniert. In der Mehrheit der Grundschulen bräuchte es aber nach wie vor deutliche Verbesserungen. Schulen, in denen gut beraten wird, haben Konzepte, wie Beratung langfristig angelegt ist. Sie stehen über die ganze Grundschulzeit im Austausch mit den Eltern und nicht erst am Ende. Sie kennen den Unterschied zwischen Beratung und Information. Wenn ich Eltern über die Schullaufbahn ihres Kindes beraten will, trage ich alle möglichen Informationen zusammen: schulische, familiäre und soziale. Und die zusammen ergeben ein Bild. Lehrkräfte sehen häufig nur einen zu kleinen Ausschnitt all der Dinge, die für den Schulweg eines Kindes wichtig sind. Eine gute Beratung sieht nicht nur die Defizite, sondern auch die Potenziale eines Kinds.

Das spricht aber nicht für die aktuelle Qualität der Beratungen?

Schrade: Dennoch werden die Eltern insgesamt gesehen besser und intensiver beraten als vor der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Die intensivere Beratung merken wir daran, dass das sogenannte besondere Beratungsverfahren deutlich weniger beansprucht wird als früher. In diesem Verfahren hatte ein unabhängiger Beratungslehrer das Kind vor allem auf seine Begabung hin angeschaut. Das führte in der Regel zwischen einem Fünftel und einem Viertel der betroffenen Kinder noch zu einer Veränderung der Empfehlung. Die Eltern hatten deshalb in dieses Verfahren früher große Hoffnungen gesetzt, doch noch die bessere Empfehlung für ihr Kind zu bekommen. Dieser Druck ist jetzt weg.

Das heißt: Sie gehen davon aus, dass die Lehrer früher den Spielraum, den es bei solchen Entscheidungen immer gibt, nicht wiedergeben konnten. Sondern sie mussten eine Entscheidung treffen.

Schrade: Genau. Sie mussten eine Kategorie bilden, und die bildet nicht ab, was sie wirklich über das einzelne Kind denken. Das ist eine Schwäche des Systems, dass man klassifizieren muss, wo es eigentlich eine Offenheit bräuchte.

Was läuft jetzt anders?

Schrade: Normalerweise werden die Eltern spätestens im Januar/Februar darüber informiert, wie die Lehrer ihr Kind einschätzen. Jetzt kann die Lehrerin sagen: Ich habe Realschule angekreuzt, sehe aber deutlich, dass das Kind bei guten Rahmenbedingungen auch eine gymnasiale Laufbahn schaffen könnte. Sie kann viel offener und fachlich differenzierter ihre Einschätzung wiedergeben.

Wenn Eltern Kinder mit einer Realschulempfehlung an einem Gymnasium anmelden, heißt das also nicht immer, dass sie unverantwortlich handeln und sich über die Lehrer-Empfehlung hinwegsetzen?

Schrade: Es gibt jetzt mehr Spielraum, den Kindern gerecht zu werden. Die Eltern sehen: Das ist die fachliche Einschätzung des Grundschullehrers, die in der Regel schon zu 70, 80 Prozent richtig ist. Aber es gibt auch Veränderungen. Und sie haben die Verantwortung für ihr Kind. Es ist oft sehr schwierig vorherzusagen, wie Kinder auf einen Schulwechsel, eine neue Klassengemeinschaft und all das reagieren. Wichtig ist, dass die Eltern reagieren, wenn ihr Kind Mühe hat. Und nicht denken: Das gibt sich.

Es gibt ja auch den umgekehrten Fall: Das Kind hat eine Gymnasialempfehlung, aber die Eltern trauen sich nicht, es dort auch tatsächlich anzumelden.

Schrade: Ja, das hat sehr viel mit dem achtjährigen Gymnasium zu tun. Viele Eltern in Baden-Württemberg wollen viel lieber das neunjährige Gymnasium wiederhaben, weil sie sehen, wie Tempo und hoher Arbeitsdruck und hohe Stundenzahl ihre Kinder stark belasten. Wir haben vor zehn Jahren noch nicht von einem Burnout bei Schülern gesprochen. Das ist aber mittlerweile ein Thema in der Schule und in der Beratung.

Welche Rückmeldung haben Sie denn aus den Gymnasien, die als mittlerweile einzige Schulart nicht zieldifferent unterrichten, aber dennoch den zunehmend unterschiedlichen Begabungen ihrer Schüler nachkommen sollen?

Schrade: Die Verantwortlichen sehen es etwas gelassener, die Lehrkräfte selber wirken oft bedrängt, von der Situation bedroht, zum Teil auch hilflos, weil sie mit der Heterogenität schwer umgehen können.

Die Schulart ist auch weder räumlich noch personell für die Heterogenität ausgestattet.

Schrade: Stimmt. Vor allem aber fehlen ihr Konzepte für die Heterogenität. Ich will dabei jetzt gar nicht mal von den paar Schülern reden, die mit einer Hauptschulempfehlung auf einem Gymnasium angefangen haben. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass ich an einer Schulart, die 50 Prozent eines Jahrgangs hat, alle gleich unterrichten kann. Da ist ein grundlegender Wandel der Unterrichtskonzepte erforderlich. Auch an den Gymnasien.

Nach dem Abrutschen des Landes in den jüngsten Bildungsstudien will die Kultusministerin den Leistungsgedanken wieder mehr in den Vordergrund stellen. Wie verträgt sich das mit der Heterogenität an den Gymnasien?

Schrade: Erstens war der Leistungsgedanke ja nie verabschiedet. Ich persönlich denke, dass in der Heterogenität die Chance für mehr Leistung liegt. Weil vorher - egal, in welcher Schulart - weder die richtig guten noch die schwächeren Schüler ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert wurden. Man ist einfach einen Mittelweg gegangen. Aber die Konzepte für individualisierten Unterricht entstehen erst. Es braucht Jahre, bis dies auch Qualität hervorbringt. Leistung war nie infrage gestellt. Die Frage war nur: welche Leistung?

Was passiert, wenn die Schulen die Grundschulempfehlungen bei der Anmeldung wieder sehen dürfen? Wird vorselektiert?

Schrade: Das fordert natürlich bei den Eltern, die sich gegen die Grundschulempfehlung entscheiden, ein größeres Durchhaltevermögen. Ich verstehe auch, dass Schulleitungen das gerne wissen möchten. Denn jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Kontrolle der Situation. Aus meiner Sicht sagen die Empfehlungen wenig über Schulerfolg, Schulwege oder Schulbiografien wirklich aus.

Sind in den vergangenen fünf Jahren denn mehr Kinder mit Schulproblemen auf Ihrer Beratungsstelle angekommen als in den Jahren zuvor?

Schrade: Da wir schon immer für die Eltern da waren, deren Kinder Probleme mit der Schule haben, kann ich da jetzt nicht einfach Ja sagen. Ich möchte einfach diesem Bild widersprechen, dass Eltern a priori unvernünftig handeln. Die meisten handeln sehr verantwortlich. Ich habe eher den Eindruck, dass anhand von wenigen Fällen eine Generalisierung stattfindet, die so nicht gerechtfertigt ist. Es gibt allerdings deutliche Anzeichen dafür, dass Schüler durch Überforderung vermehrt Auffälligkeiten zeigen. Die Realschulen haben in den vergangenen zwei Jahren durchaus gelitten, weil sich ihre Schülerklientel im Verhalten sehr verändert hat. Auf den großen Anteil an Hauptschülern waren die Konzepte an den Realschulen einfach nicht eingestellt. Und Überforderung provoziert Verhaltensauffälligkeiten, die sich auch in Disziplinproblemen ausdrücken. Den Kindern geht es ja nicht gut.

Sind denn die Realschulen trotz des neuen Realschulkonzepts immer noch nicht ausreichend auf die Heterogenität im Klassenzimmer eingestellt?

Schrade: Ja. Da wird in den nächsten Jahren aber noch viel passieren. In Klasse fünf und sechs sind ja jetzt alle Kinder in der Orientierungsstufe zusammen. Das ist vom Ansatz her ja auch gut. Geprüft wird aber nur auf dem mittleren Niveau, nicht auch noch auf dem grundlegenden Niveau. Erst ab Klasse sieben werden beide Niveaustufen in den Klassenarbeiten abgebildet. Was passiert mit Kindern, die diesem mittleren Niveau nicht standhalten können? Aber da wir im Kreis kaum mehr Werkrealschulen haben, müssen sich die Realschulen auf diese Kinder einstellen.

Gut, jetzt kommen die Anmeldetage. Ich habe ein Kind mit einer klaren Werkrealschulempfehlung. Was mache ich?

Schrade: Ich überlege, ob ich die Gemeinschaftsschule oder die Realschule wähle. Ich würde nach Konzepten schauen, mir Eindrücke beim Tag der offenen Tür verschaffen, schauen, wo Freunde hingehen, wo ich einen guten Eindruck vom Kollegium habe. Ich würde auch danach schauen, welchen Schulweg mein Kind künftig hat.

Was mache ich, wenn ich einen Schüler mit einer guten Realschulempfehlung habe? Soll er es auf dem Gymnasium einfach einmal probieren?

Schrade: Da würde ich zuerst nach den sprachlichen Fähigkeiten des Kindes schauen. Wir haben einen gewissen Schüleranteil in den zurückliegenden Jahrzehnten gehabt, der mathematisch ganz gut war, aber sprachlich nicht so hohe Fähigkeiten hatte. Diese Kinder sind dann ganz klassisch an den Realschulen gelandet, weil das Gymnasium halt doch ein hohes sprachliches Anforderungsprofil hat.

Was mache ich, wenn mein Kind eine klare Realschulempfehlung hat?

Schrade: Realschule oder Gemeinschaftsschule. Deshalb habe ich noch einmal auf die Tage der offenen Tür verwiesen. Es ist wichtig, auch mit den Schülern zu reden, die dort schon sind, und sie zu fragen, wie sie ihr Lernen erleben.

Ist es nicht nach wie vor besser, man baut seine Schullaufbahn von unten nach oben auf, als dass man von oben nach unten durchgereicht wird?

Schrade: Ja, das würde ich so unterschreiben. Nichts ist erfolgreicher als Erfolg. Und Erfolg und Gelingen animieren, noch mehr zu bringen und noch mehr zu leisten. Misserfolg entmutigt, macht klein und verunsichert.

Das Interview führte Claudia Bitzer.

Zur Person: Ernst Schrade

Ernst Schrade (64) ist Leiter der Schulpsychologischen Beratungsstelle im Staatlichen Schulamt Nürtingen und hat seinen Schreibtisch in der Esslinger Augustiner-

straße 5. Das zwölfköpfige Team an den Standorten Esslingen und Nürtingen berät Schüler, Eltern und Lehrer aus den rund 150 Schulen im Kreis Esslingen bei Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsdefiziten, Mobbing, Krisen, Konflikten in der Schulentwicklung, aber auch bei Fragen zur Schullaufbahn. Die Beratungsstelle bildet zudem Beratungslehrer aus und betreut sie. Schrade war zwölf Jahre lang Grund- und Hauptschullehrer, bevor er in die Schulpsychologie wechselte. Er gehört zudem zu den Psychologen im Land, die sich nach dem Amoklauf von Winnenden und Wendlingen um die Betroffenen gekümmert haben.

Kontakt: Tel. 0711/31 05 80-30.