Am 16. April findet in der Türkei eine Volksabstimmung über die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsänderung statt. Mit ihr sollen die Rechte des Parlaments wesentlich eingeschränkt und auf den Präsidenten übertragen werden. In Esslingen hat sich eine Initiative zur Information der in der Türkei Wahlberechtigten gebildet. Am Samstag ist die Gruppe in der Bahnhofstraße an die Öffentlichkeit getreten und hat viel Zustimmung erfahren.
„Etwa 60 Prozent der Wahlberechtigten in der Türkei sind gegen eine Verfassungsänderung, bei den Türken in Deutschland sieht es ähnlich aus. 1,4 Millionen sind wahlberechtigt, viele sind aber noch unentschlossen und viele wissen gar nicht genau, um was es geht. Das hat große Bedeutung für die Volksabstimmung und deshalb sind wir hier“, sagt Isin Toymac. Sie ist die Sprecherin der kürzlich gegründeten überparteilichen Initiativgruppe „Hayir“, zu deutsch Nein.
Aktivisten verteilen Flugblätter
Etwa 15 Aktivisten stehen in der Nachmittagssonne, manche mit Plakaten um den Hals, verteilen Flugblätter und beantworten Fragen von Passanten. Manche nähern sich vorsichtig, viele bleiben stehen, beginnen in kleinen Grüppchen zu diskutieren. Zwei junge Männer schlendern vorbei. „Nein danke, ich bin für Erdogan“, lehnt der eine das Flugblatt ab. „Ich bin gegen ihn“, sagt sein Begleiter vernehmlich und steckt das Papier ein. Eine ältere Frau mit Kopftuch kommt bepackt mit Einkäufen vorbei. „Bravo“, sagt sie nach einem Blick auf das Flugblatt zu den Aktivisten. Zwei andere Frauen halten hingegen großen Abstand, schimpfen dafür umso lauter. „Sie sagen, dass wir den Präsidenten und die Türkei beleidigen“, übersetzt eine der Helferinnen am Stand. Dies illustriere das Problem der politischen Meinungsbildung in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland recht deutlich, erklärt Isin Toymac. Sehr viele Journalisten in der Türkei sind inhaftiert, die meisten unabhängigen Medien zum Schweigen gebracht, Kritiker laufen Gefahr, als „Terroristen“ verfolgt zu werden. Dies polarisiere und spitze die Diskussion zu, erläutert sie.
„Aber es geht überhaupt nicht um Erdogan, es geht um die Verfassung“, sagt sie. Mit der angestrebten Änderung sei der politische Pluralismus am Ende, würden die Rechte des Parlaments faktisch ausgehebelt, die Unabhängigkeit der Justiz und der Wissenschaft beseitigt und die Macht des Präsidenten als Ein-Personen-Regierung zementiert. „Die Nein-Sager wollen aber, dass die Türkei als parlamentarische Republik erhalten bleibt. „Nein heißt ja zur Demokratie“, erklärt Toymac.
Es habe überwiegend positive Reaktionen auf den ersten Auftritt der Initiativgruppe gegeben, fasst Isin Toymac ihre Erfahrungen zusammen. „Auch die meisten Ja-Sager sind freundlich geblieben und wollten diskutieren“, erzählt sie. Dies sporne die Aktiven der Esslinger Initiative an, weiterhin zu informieren, zumal die Zeit bis zur Volksabstimmung knapper und der Ton vor allem im Internet immer rauer werde.
Die Initiative will die Fairness in der politischen Diskussion weiter fördern und hat alle Vereine und Organisationen der Türken in Esslingen zu einem gemeinsamen Gespräch am 1. März eingeladen. „Auch die Moscheevereine und auch die Rechten“, betont Isin Toymac. „Schließlich geht es um den Erhalt der Meinungsfreiheit und der Demokratie.“