Etwa 120 Besucher verfolgten die Diskussion über die Zukunft des Gebietes Greut im Alten Rathaus in Esslingen. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Von Christian Dörmann

Wie viel ist ein Prozent? Was sich rechnerisch problemlos darstellen lässt, gewinnt aus Sicht eines Klimaexperten schnell eine andere Dimension. Im Zusammenhang mit dem Greut zum Beispiel, einer 1,6 Hektar großen Freifläche zwischen Krummenacker und Serach. Dessen Funktion als Kaltluftschneise werde zu etwa einem Prozent eingeschränkt, wenn das Gebiet mit Wohnhäusern bebaut würde. Zu dieser Einschätzung gelangt das von der Stadtverwaltung beauftragte Büro Ökoplana in seinem Klimagutachten.

Für Lutz Katzschner, Diplom-Meteorologe und renommierter Klimatologe aus Kassel, hat dieser Wert wenig bis keine Aussagekraft. Und er fragt sich aus vielerlei Gründen, weshalb ausgerechnet das Greut als Baufläche auserkoren worden ist. „Als Freifläche erhalten“, lautete am Mittwoch sein Urteil während eines Informationsabends mit dem Thema „Bauen ohne Grenzen und ohne Konsequenzen“. Ins Alte Rathaus eingeladen hatten die Bürgerinitiative Zukunft RSKN, der Verein Rettet das Greut und der Bürgerausschuss Innenstadt.

Signal für Gemeinderat und Stadt

Bei den gut 120 Besuchern der Veranstaltung, ganz überwiegend Kritiker einer Bebauung des Greut, kam die Botschaft des Professors und Leiters der Richtlinien-Kommission VDI für Klima, Planung und Lufthygiene naturgemäß gut an. Zumindest ein Signal auch für die anwesenden Vertreter des Gemeinderats, die sich am kommenden Mittwoch im Ausschuss für Technik und Umwelt mit einem Wettbewerbsverfahren für die potenzielle Baufläche beschäftigen.

Neben den vielen hinlänglich bekannten Argumenten, die aus Sicht der Gastgeber gegen jegliche Bebauung des Greut sprechen, geriet im Alten Rathaus tatsächlich die Zahl Eins zur beherrschenden Größe. Denn die prognostizierte einprozentige Einschränkung der Kaltluftfunktion durch Häuser für etwa 100 Wohnungen und den damit verbundenen Verweis auf „geringe Auswirkungen“ will Lutz Katzschner so nicht stehen lassen. „Geringe Belastung, das heißt immer genehmigungsfähig. Das geht mir gegen den Strich“, sagt der Professor für Umweltmeteorologie an der Uni Kassel. Die von Ökoplana entwickelten Simulationsmodelle für den Weg der Kaltluftströme hält er für „nicht sehr aussagefähig“ und hofft, „dass die Stadt dafür kein Geld ausgegeben hat“.

Was Katzschner fehlt, ist eine genaue Folgenabschätzung. „Geringe Veränderungen an der einen können große Auswirkungen an anderer Stelle haben.“ Konkret: „Wenn die Stadt sagt, wir brauchen im Greut ein Baugebiet, muss sie sich überlegen, was mit den Menschen in der Innenstadt geschieht.“ Weniger Kaltluft und mehr Hitzetage sagt Katzschner voraus und hat Zweifel, ob die Gutachter langfristige Klimaveränderungen in ihrer Beurteilung berücksichtigt haben.

Man dürfe das Baugebiet nicht isoliert betrachten, meint der Professor und nennt als positives Beispiel die Landeshauptstadt. In Stuttgart gebe es einen Rahmenplan für alle Halbhöhenlagen, in dem festgeschrieben sei, welche Beeinträchtigungen sich für das Stadtklima ergeben könnten, wenn in Freiflächen eingegriffen würde. Das könne für Esslingen ein Vorbild sein, auch wenn es um die Bewertung der gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung geht.

Mit ihrem jüngsten Klimagutachten für das Greut hat die Stadt Esslingen bekanntlich kein Neuland betreten. Untersuchungen gab es schon 1978, als dort die Neue Heimat bauen wollte. Ebenso 1988, als es um ein Altenheim ging. Beide Vorhaben blieben schließlich an den Hürden des Umwelt- und Klimaschutzes hängen. Aus diesem Grund wundert sich Lutz Katzschner ein wenig über die aktuelle Diskussion: „Die Klimafunktion des Greut ist doch schon mehrfach bestätig worden, alle Erkenntnisse liegen vor. Warum soll dann dort gebaut werden?“

Wohnungen gegen Frischluft

Letzten Endes räumt aber auch der Professor mit Blick auf Verwaltung und Gemeinderat ein, dass die Entscheidung, ob im Greut gebaut werden soll oder nicht, einem Abwägungsprozess unterliegt. Sprich: Auf der einen Seite gibt es den objektiven Wohnungsmangel – nicht nur für die gesetzlich verordnete Anschlussunterbringung von Flüchtlingen, sondern auch für viele Esslingerinnen und Esslinger, die keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden.

Die andere Seite, das sind knapper werdende Freiflächen, die teilweise eine wichtige Klimafunktion erfüllen. Für Barbara Frey, die Vorsitzende des Bürgerausschusses Innenstadt, überwiegt im Fall Greut der Klimaschutz. Deshalb gab sie am Mittwoch der Verwaltung und dem Gemeinderat mit auf den Weg: „Es genügt nicht, nur an einem Klimaschutzprogramm teilzunehmen.“