Mobbing, Streit daheim, soziale Isolierung: Die Gründe für die Angst vor der Schule sind vielschichtig. Die Zahlen der Schwänzer nehmen auch im Kreis zu. Foto: Brian Jackson / fotolia.com Quelle: Unbekannt

Von Fabian Schmidt

Manche Kinder nehmen sich am Morgen fest vor, die Schule zu besuchen. Sie packen ihren Ranzen, verlassen das Haus, erreichen das Schulgebäude - aber betreten es nicht. Sie schaffen es nicht, verweigern den Unterrichtsbesuch. Andere Heranwachsende verlassen das Elternhaus erst gar nicht. Weil daheim Streit herrscht, weil ein Familienmitglied krank ist. Die Gründe sind vielschichtig. Schuleschwänzen sei eine der aktuell großen Herausforderungen, sagt Gunter Joas, der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Esslinger Klinikum: „Manchmal passt die Schule auch nicht, oder die Schüler sind überfordert. Aber wir haben eine deutliche Zunahme bei Kindern und Jugendlichen, denen wir es zutrauen, in ihre betreffende Schule zu gehen. Sie machen es aber nicht.“

Psychosomatische Beschwerden

Darunter sei ein großer Teil an Schülern, bei denen von außen betrachtet alles in Ordnung scheint. Doch in ihnen drin dirigiere sie eine Angststörung zur Schulverweigerung. Oft seien die Stillen betroffen, nicht die Rabauken. Psychosomatische Probleme wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel, für die keine Ursachen gefunden werden können, sind häufig Symptome. Laut Studien seien bis zu 14 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Angststörungen betroffen, berichtet Gunter Joas. „Sie haben Angst, nicht zu genügen, es nicht hinzukriegen“, sagt der Chefarzt und ergänzt: „Schließlich leben wir in einer zunehmenden Performance-Welt, in der schon in der Grundschule Power-Point-Präsentationen angesagt sind.“ Durch vielschichtige Anforderungen entstünden Druck und Ängste.

„Kinder sind ein Indikator für die Gesellschaft, und die Schulvermeidung ist ein Indikator für den Stress in der Gesellschaft“, sagt Joas. Was können Eltern tun? Erst einmal abklären, ob organische Gründe für die Beschwerden wie Bauchweh oder Kopfschmerzen vorliegen. Falls nicht, sollten die Eltern ihre Kinder nicht gut gemeint lange krank schreiben lassen. „Das unterstützt das Vermeidungsverhalten“, erklärt der Mediziner. Vielmehr sollte zusammen mit der Schule, einer Beratung oder auch einer Ambulanz nach Lösungen gesucht werden. Es brauche Hilfe von außen. „Wichtig ist die Vernetzung zwischen Schule und Eltern, damit die Kinder merken, dass sich die Erwachsenen einig sind“, sagt Joas: „Je früher man interveniert, umso schneller schafft man es.“ Schülern, die bereits lange schwänzen, empfiehlt er auch den Besuch einer Tages- oder stationären Klinik wie der in Esslingen. Dabei kommt der Unterricht im Krankenhaus ins Spiel.

Brunhilde Haaga ist Leiterin der Esslinger Schule für Kranke und zusammen mit anderen Lehrerinnen sowie Lehrern auch an der psychiatrischen Kinderklinik aktiv. Derzeit unterrichtet sie dort in Containern, doch es entsteht ein Bau, in dem 60 bis 80 Kinder und Jugendliche lernen können. „Die Kinder haben Trennungsangst von Zuhause, vor Mobbing oder vor Mitschülern“, sagt sie. Aufgrund ihrer Ängste könnten die Heranwachsenden nicht an dem teilnehmen, was in ihrem Alter üblich ist: Schule besuchen, Hausaufgaben machen, Freunde treffen - und damit meint sie ausdrücklich nicht die digitalen Bekanntschaften. „Unsere schulvermeidenden Schüler nennen Personen, die sie nur über soziale Medien kennen, Freunde.“

Held nur im digitalen Leben

Bei den Gründen für die Angst will sich Haaga nicht auf einen festlegen. Sie hebt aber die Digitalisierung hervor, die Vernetzung, die ohne persönlichen Kontakt erfolgen kann: „Ich erlebe immer wieder Schüler, die sind medial ein Held, aber im Alltag kommen sie nicht auf ein normales Level, um soziale Auseinandersetzungen zu meistern.“ Sie können beispielsweise nicht mit Kritik und Streit umgehen - und folglich auch die Schule nicht besuchen. Da manche Kinder aber drei bis sechs Monate auf einen Klinikplatz und damit auch auf den dortigen Unterricht warten müssen, offeriert die Schule für Kranke an der Esslinger Rohräckerschule ein besonderes Angebot. Dort werden etwa vier bis acht Schüler auf der Basis eines vollen Lehrauftrags unterrichtet. „Wir überbrücken die Zeit, bis eine Aufnahme in eine Klinik, eine Jugendhilfeeinrichtung oder auch ein ambulantes Konstrukt möglich ist“, sagt Heilmut Kwoka, der an der Schule unterrichtet und zudem im Staatlichen Schulamt Nürtingen als Berater in puncto Schuleschwänzen tätig ist. Das Ziel ist es, die Heranwachsenden wieder an die Regelschule heranzuführen. Ist dies nicht möglich, können sie dort auch den Hauptschulabschluss machen. Jeder Schüler muss individuell gefördert werden, erklärt Kwoka.

Die Stärken in einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens betonen - schon dieses Ziel ist schwer zu erreichen, denn viele Kinder seien aufgrund ihrer Erfahrungen sehr misstrauisch. Es sei demnach sinnvoll, Inhalte in den Unterricht einzubauen, die der Betreffende mit Begeisterung angeht. Mag er Mathe, macht man Mathe. Zeigt er sein Können, wird er ruhiger und man kann einen anderen Inhalt angehen. So lässt sich die Vorgehensweise vereinfacht zusammenfassen. „Wir versuchen, der Goldsucher im Schlamm zu sein.“ Um eine Brücke zu schlagen zwischen dem alten Ufer des Schwänzens zum neuen Abschnitt - beispielsweise in der Klinik. Im Optimalfall gehen die Kinder schon davor so gestärkt aus dem Unterricht hervor, dass sie die Herausforderungen des Alltags meistern können. „Für viele ist das echt eine Chance, deshalb mache ich das aus Überzeugung“, sagt Kwoka. „Die Teilhabe und das Gefühl des Willkommenseins sind schließlich Teil der Menschenwürde.“

Erst der Mensch, dann der Inhalt

In seiner Beraterfunktion für das Schulamt ist er auch viel im Kreis unterwegs. Die Dunkelziffer der Schwänzer sei groß, „aber ganz so arg erschrecke ich nun auch nicht“. Eines ist dennoch gewiss: „Wir müssen die Schüler individueller fördern und fordern. Erst der Mensch und die Beziehung, dann der Unterrichtsstoff.“ Immer wieder stelle er sich indes die Frage nach den Gründen für die Zunahme der Schulverweigerer. Das digitale Leben, das tief in die Persönlichkeit eingreife, und der zunehmend herbere Umgangston untereinander nennt er als mögliche Ursachen. Zudem könne es gut sein, dass immer mehr Eltern Probleme in ihrer Erziehungs-, Vorbild- und Führungsfunktion haben. Außerdem spielten Zuwendung und Fürsorge eine Rolle. „Aber wer kann es sich schon leisten, weniger arbeiten zu gehen“, sagt Heilmut Kwoka und fügt an: „Wir können jedoch jeden Tag den Einzelfall besser begreifen und ihn unterstützen.“ Sozusagen die Goldnuggets in der Psyche finden und damit das Kind stärken.

Israelische Idee als Vorbild

Psychologische Schwächen müssen entdramatisiert werden, sagt Gunter Joas, Chefarzt am Esslinger Klinikum. Es sei wichtig, beispielsweise Angststörungen nicht zu verheimlichen. Dies geschehe selbst innerfamiliär ab und an. „Es ist jedoch viel wichtiger, damit lösungsorientiert umzugehen“, sagt der Mediziner. Auch das könnte beispielsweise ein Aspekt bei der Diskussion eines Gremiums zum Thema Schulvermeidung sein, das in diesen Tagen am Staatlichen Schulamt Nürtingen zusammenkommt. Gunter Joas würde dies wohl freuen.

Einen familiären Sit-in empfiehlt der Chefarzt indes als mögliche Therapie von Schwänzern. In Israel versammle und unterhalte sich die gesamte Großfamilie immer wieder im Zimmer des Betroffenen - solange, bis dieser wieder die Schule besucht. Das sei höchst effektiv, so Joas, der ohnehin ein großer Anhänger des sogenannten Hometreatment ist. Hierbei werden die psychischen Probleme der Betroffenen Zuhause angegangen. So könne auch das Umfeld besser in die Behandlung einbezogen werden.