Lisa Lyssenko Foto: oh Quelle: Unbekannt

Lisa Lyssenko ist Diplom-Psychologin und beschäftigt sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim vor allem mit der Frage, welche Faktoren die psychische Gesundheit von Menschen stärken. Sie rät zu mehr Achtsamkeit, um sich ein Stück weit vom Alltagsstress zu befreien. Am kommenden Mittwoch ist sie als Referentin zu Gast in Esslingen.

Frau Lyssenko, viele Menschen halten psychische Störungen und Krankheiten für unabwendbar. Sie sehen das offenbar anders: Aus Ihrer Sicht kann man psychischen Erkrankungen vorbeugen. Wie funktioniert das?

Lyssenko: Ja, man kann durchaus Prävention betreiben, darum wird es auch in meinem Vortrag in Esslingen gehen. Denn es gibt Risiko-, aber auch Schutzfaktoren für psychische Krankheiten. Auslöser für psychische Erkrankungen sind häufig stressreiche oder belastende Situationen, die über einen längeren Zeitraum andauern. Schutzfaktoren können einen dabei unterstützen, diese Situationen zu bewältigen und schwierige Zeiten im Leben gut zu überstehen.

Was sind das für Schutzfaktoren?

Lyssenko: Schutzfaktoren können im äußeren Umfeld, aber auch innerhalb des Menschen liegen. Ein zentraler Schutzfaktor ist die metakognitive Kompetenz, also der Umgang mit den eigenen Gefühlen und Gedanken. Manche tendieren in stressreichen Situationen dazu, sich selbst zu kritisieren oder sich Katastrophenszenarien auszudenken, was sich eher negativ auf die Gesundheit auswirkt. Mit Hilfe von Achtsamkeit kann man trainieren, sich davon nicht zu sehr mitreißen zu lassen. Man lernt, etwas Abstand zu den Gedanken zu bekommen und sie damit abzuschwächen. Aus dieser Distanz heraus kann man dann überlegen, wie man mit solchen Gedanken am besten umgeht.

Was ist noch hilfreich, um psychische Erkrankungen zu verhindern?

Lyssenko: Wenn der Alltag als sinnvoll erlebt wird, ist das auch ein Schutzfaktor. Menschen sind stabiler, wenn ihnen bewusst ist, was ihnen wichtig ist und sie dies auch umsetzen. Es kann hilfreich sein, die eigenen Werte zu reflektieren, anstatt Dinge nur zu tun, weil alle das machen oder weil es gesellschaftlich erwartet wird. Auch soziale Beziehungen wirken als Schutzfaktor. Man geht davon aus, dass sich unser Gehirn, wie es heute ist, in der späten Steinzeit entwickelt hat. Damals waren soziale Beziehungen überlebenswichtig. Heute ist das nicht mehr ganz so, aber die psychische Gesundheit ist durchaus abhängig vom persönlichen sozialen Netzwerk. Als stabil gilt, wer in mindestens drei von vier Bereichen funktionierende Kontakte hat: Familie, Freunde, Kollegen und Funktionskontakte, also etwa zu Nachbarn oder Vereinskollegen. Auch die Selbstwirksamkeit ist ein Schutzfaktor.

Worum geht es bei der Selbstwirksamkeit?

Lyssenko: Damit bezeichnet man die Erwartung einer Person, die Herausforderungen des Alltags bewältigen zu können. Diese Einstellung kann man trainieren. So denken zum Beispiel viele Menschen, dass sie nicht stark genug sind, ihr Verhalten zu ändern, etwa sich gesünder zu ernähren oder mehr zu bewegen. Denn es reicht ja nicht, nur zu erkennen, dass man etwas an seiner Lebensweise ändern müsste, man muss den Plan dann letztlich auch umsetzen. Wenn das dann nicht gleich klappt, denken viele Menschen, sie seien zu schwach. Dabei ist es ganz normal, dass es gerade am Anfang Rückschläge gibt. Stärke zeigt man eher, wenn man trotz der Rückschläge weiter durchhält.

Warum beschäftigen Sie sich mit dem Thema: Steigt die Zahl der psychischen Störungen?

Lyssenko: Ja, in der Tat. Psychische Störungen werden heute immer mehr zur Belastung, sowohl für Individuen als auch für Sozialsysteme und Arbeitgeber. Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen werden psychische Erkrankungen inzwischen häufiger diagnostiziert als früher, weil es ein stärkeres Bewusstsein dafür gibt und die psychischen Ursachen für Beschwerden - etwa bei Rückenleiden - heute eher erkannt werden. Auch die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen dürfte eine Rolle spielen: Man geht heute viel offener mit dem Thema um als früher. Allerdings haben stressbedingte Erkrankungen auch unabhängig davon zugenommen.

Warum?

Lyssenko: Wir erleben heute einen ganz anderen Stress als noch vor 20 Jahren. Dazu trägt die Arbeitswelt bei, die sich stark verändert hat, aber auch die Digitalisierung und die Vielfalt der Angebote, die es heute gibt. Das hat Sonnen- und Schattenseiten: Es ist toll, viele Möglichkeiten zu haben, die Auswahl heißt gleichzeitig aber auch Stress für die Psyche, weil wir uns ständig für oder gegen etwas entscheiden müssen. Und jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten. Das ist für unsere Psyche anstrengend.

Kann man es so zusammenfassen: Körperlich ist man in unserer Gesellschaft heute immer weniger, dafür psychisch immer mehr gefordert?

Lyssenko: Ja, so kann man das sagen. Aber ich will das gar nicht bewerten: Heute sind einfach andere Fähigkeiten gefordert als noch vor 20 oder 30 Jahren. Damals war es eine Herausforderung, überhaupt an Informationen zu kommen, heute muss man aus der großen Vielfalt auswählen. Das ist nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Handys und Internet etwa sind toll und unverzichtbar, aber man muss lernen, damit umzugehen. Jedes Piepsen des Smartphones löst Glücksgefühle aus, weil es signalisiert, dass man wichtig ist. Aber wer sich ständig davon unterbrechen lässt, gerät schnell in Stress. Man sollte wissen, wo seine eigenen Grenzen sind und das Gerät dann eventuell auch einmal ausschalten.

Was raten Sie Menschen, die sich im Alltag gestresst fühlen?

Lyssenko: Als erstes sollten diese Menschen aufmerksam hinschauen: Was genau ist denn so stressig? Was nimmt sie persönlich mit? An welchen Anzeichen merken sie, dass sie gestresst sind? Es geht also darum, die eigenen Grenzen zu erkennen und dann zu schauen, welche Strategien helfen, um damit umzugehen. Das muss nichts Großartiges sein, oft helfen ganz kleine Schritte. Mich stressen zum Beispiel Riesen-Supermärkte. Deshalb gehe ich an stressigen Tagen lieber in ein Geschäft, in dem es nur wenig Auswahl gibt, damit mich die Entscheidung, was ich denn nun kaufen soll, nicht überfordert. Es geht also letztlich oft nur um kleine Anpassungen im Alltag.

Die Tipps und Tricks, die Sie nennen, kann sicher jeder für sich daheim ausprobieren. Ab wann sollte man sich denn professionelle Hilfe bei psychischen Problemen holen?

Lyssenko: Wer das Gefühl hat, so belastet zu sein, dass eine Grenze überschritten ist, sollte in einer Beratungsstelle oder bei einem Psychologen Unterstützung suchen. Tendenziell kommen die Leute viel zu spät zu einem Therapeuten. Oft hat sich die Störung dann schon chronifiziert und auf verschiedene Lebensbereiche ausgewirkt. Dabei ist es viel sinnvoller, sich kurzfristig mit fünf oder sechs Sitzungen von einem Psychologen unterstützen zu lassen als nach zehn Jahren, wenn man vielleicht schon den Job verloren hat und Beziehungen in die Brüche gegangen sind.

Das Gespräch führte Melanie Braun

spezialistin für prävention

Person: Lisa Lyssenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim und Geschäftsführerin des Instituts für wissenschaftliche psychologische Prävention (IWPP) in Freiburg. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt beim Thema Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit. Außerdem ist sie als Trainerin und Workshopleiterin zu den Themen Prävention psychischer Störungen, Akzeptanz- und Commitmenttherapie sowie Gesundes Führen tätig. Die 35-Jährige ist unter anderem Co-Autorin einer Expertise im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und hat an der Konzeption der Gesundheitsaktion „Lebe Balance“, einem Präventionsprogramm der AOK Baden-Württemberg, mitgearbeitet.

Programm: Das Lebe-Balance-Programm der AOK soll gesunde Menschen dabei unterstützen, die Herausforderungen des Alltags besser zu meistern und gestärkt durchs Leben zu gehen. Das sollen sie vor allem dadurch erreichen, dass sie noch achtsamer mit sich und ihrem Umfeld umgehen und ihr Leben in erster Linie nach den Dingen ausrichten, die für sie persönlich wirklich wichtig sind. Vortrag: Die Veranstaltung „Lebe Balance - Vortrag zu innerer Stärke und Achtsamkeit“ mit der Referentin Lisa Lyssenko findet am Mittwoch, 26. April, um 19 Uhr im AOK-Haus Esslingen (Plochinger Straße 13) im Rahmen der Reihe „gesund.ES - Leben in der Stadt“ statt. Der Eintritt ist frei. Informationen zur Anmeldung gibt es unter Tel. 0711/ 93 99-440 oder per E-Mail an die Adresse janlennart.loeffler@bw.aok.de.